Zentrum der Gesundheit
  • Frau liegt vor den Tabletten

Machen Antidepressiva abhängig?

Viele Menschen erleben oft monate- oder gar jahrelang starke Beschwerden, wenn sie Antidepressiva absetzen – Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schüttelfrost oder Schlafstörungen sind nur einige davon. Da hier streng genommen von keiner Abhängigkeit gesprochen werden darf, werden die Symptome bis heute unterschätzt und Patienten häufig nicht oder zu wenig darüber informiert.

Fachärztliche Prüfung: Gert Dorschner
Aktualisiert: 21 März 2024

Kostenlosen Newsletter abonnieren

Mit Ihrer Anmeldung erlauben Sie die regelmässige Zusendung des Newsletters und akzeptieren die Bestimmungen zum Datenschutz.

Antidepressiva absetzen: Oft leichter gesagt als getan

Antidepressiva werden oft viele Monate oder Jahre lang eingenommen. Will man die Mittel schliesslich absetzen, gestaltet sich dies oft schwierig. Denn Antidepressiva können eine Art Abhängigkeit bewirken, so dass sich ein plötzliches Absetzen nicht empfiehlt. Stattdessen müssen die Medikamente ausgeschlichen werden. Allerdings wirken nicht alle Antidepressiva diesbezüglich gleich. Es hängt von der Halbwertszeit der einzelnen Mittel ab, ob diese nun beim Absetzen Probleme bereiten können oder nicht.

(Hier erklären wir unser ganzheitliches Konzept bei Depressionen ).

Immer mehr Menschen nehmen Antidepressiva ein

Antidepressiva werden immer häufiger von Ärzten verordnet. Dem Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse aus 2018 zufolge haben sich die Verordnungen zwischen den Jahren 2007 und 2017 verdoppelt. Auch ein OECD-Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass der Konsum von Antidepressiva zwischen den Jahren 2000 und 2011 von 35 auf 56 Dosen pro Tag je 1000 Einwohner gestiegen ist. Ein möglicher Grund laut Robert-Koch-Institut liegt darin, dass Antidepressiva nicht mehr nur bei Depressionen, sondern auch bei Angst- und Zwangsstörungen sowie bei Schmerzsyndromen verordnet werden ( 1 ).

Kaum Wirkung und schwere Nebenwirkungen

Antidepressiva wirken jedoch in vielen Fällen weder antidepressiv noch angstlösend und sind oft kaum wirksamer als Placebo-Pillen. Zudem können sie mit einer Reihe schwerwiegender Nebenwirkungen verbunden sein, darunter Krampfanfälle, Leberschäden, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck oder Selbstmordgefährdung.

Eine 2016 durchgeführte Untersuchung aus Neuseeland beschäftigte sich mit den häufigsten Nebenwirkungen bei Patienten, die schon einige Jahre Antidepressiva einnahmen. Fast drei Viertel der Patienten war von sexuellen Störungen betroffen (71.8 %), mehr als die Hälfte von Gewichtszunahme (65.3 %) und emotionaler Taubheit (64.5 %) und fast die Hälfte hatte das Gefühl, süchtig nach den Medikamenten zu sein (43 %) ( 3 ).

Symptome beim Absetzen von Antidepressiva

Im Jahr 2012 wurde der beispielhafte Fallbericht einer 46-jährigen Patientin (Frau A.) veröffentlicht. Frau A. plagten bei beim Absetzen ihres Antidepressivums unzählige Symptome: Sie erlebte unter anderem ein lautes summendes Geräusch im Kopf (Tinnitus), Schwindel, Erschöpfung, Schlaflosigkeit, ein Gefühl, dass sie am ganzen Körper zitterte und ihr ständig zum Heulen zumute war. Mit der Zeit kamen immer weitere Symptome dazu – so berichtete sie drei Monate nach dem Absetzen unter anderem von Übelkeit und Erbrechen, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme, Angst und Panik, Alpträumen und Schlafstörungen sowie Hoffnungslosigkeit und Herzklopfen.

Frau A. litt an einer schweren depressiven Episode, weshalb sie 10 Jahre zuvor begann, Antidepressiva einzunehmen. Nachdem sie zwei Jahre lang mit verschiedenen Antidepressiva behandelt wurde, wurde sie schließlich auf täglich 150 mg Venlafaxin eingestellt. Venlafaxin ist ein sogenanntes SNRI – ein Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer − das die Rückaufnahme von Serotonin und Noradrenalin in die Nervenzelle hemmt. Dadurch erhöht sich die Konzentration der beiden Botenstoffe im synaptischen Spalt, also der Verbindungsstelle zwischen den Nervenzellen, weshalb die Botenstoffe länger wirksam bleiben.

Sie nahm das Medikament acht Jahre lang ein und fühlte sich im Laufe der Zeit wieder stabil − Frau A. ging ihren üblichen Aktivitäten nach und hatte einen Vollzeitjob. Daher entschied sie sich, das Medikament unter ärztlicher Aufsicht abzusetzen. Die Dosis wurde bei ihr wöchentlich um 37.5 mg reduziert ( 2 ).

Probleme beim Absetzen von Antidepressiva: Aufklärung fehlt

Frau A. ist nicht die Einzige, die nach dem Absetzen eines Antidepressivums Symptome entwickelte − fast drei Viertel der Menschen (73.5 %), die über längere Zeit (3-15 Jahre) ein Antidepressivum einnahmen, berichteten über Entzugserscheinungen, so eine Studie von 2016 ( 3 ).

Auch eine 2018 veröffentlichte Übersichtsarbeit, die die bisherige Literatur zu den Absetzsymptomen bei Antidepressiva genauer unter die Lupe nahm, fand heraus, dass mehr als die Hälfte der Patienten von Beschwerden berichtete und jeder Zweite die Entzugserscheinungen als schwerwiegend bezeichnete ( 4 ).

Viele Menschen berichten, von ihren behandelnden Ärzten nicht oder zu wenig über die Nebenwirkungen von Antidepressiva, über mögliche Entzugserscheinungen der Mittel und auch zu wenig über die Probleme beim Absetzen von Antidepressiva aufgeklärt worden zu sein ( 3 ). In einer Befragung von 1800 Betroffenen erinnerte sich nur jeder 100. daran, über mögliche Entzugserscheinungen informiert worden zu sein ( 1 ).

Abhängigkeit oder Absetzsyndrom?

Bei den Symptomen von Frau A. spricht man vom sogenannten „Absetzsyndrom“. Man könnte meinen, dass es sich hier um eine Form der Abhängigkeit handelt, da das Absetzen von Antidepressiva zu Entzugssymptomen führt, die jenen von süchtig machenden Medikamenten wie Benzodiazepinen ähneln. Doch darf streng genommen nicht von einer Abhängigkeit gesprochen werden, da einige Kriterien dafür nicht erfüllt sind – dazu zählen etwa die Vernachlässigung von Interessen oder das Verlangen nach der Substanz.

Interessanterweise wurde das DSM ( Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) − ein Klassifikationssystem für psychische Störungen − jedoch 1987, kurz vor Markteinführung der SSRI (einer Form der Antidepressiva) überarbeitet. Während bis zu diesem Zeitpunkt lediglich Entzugserscheinungen und Toleranzentwicklung vorhanden sein mussten, um von einer Abhängigkeit zu sprechen, waren es danach weitere Kriterien, die erfüllt sein mussten ( 5 ). Von Toleranzentwicklung spricht man, wenn ein Stoff immer weniger wirksam ist, man davon also immer mehr zu sich nehmen muss, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Wie lange dauern die Symptome beim Absetzen an?

Laut DSM-5 (die seit 2013 gültige DSM-Auflage) verschwinden die Entzugssymptome nach dem Absetzen von Antidepressiva in der Regel nach ein bis zwei Wochen wieder. Wissenschaftliche Studien zu dem Thema kamen jedoch zu anderen Ergebnissen. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2012 von der Universität Bologna analysierte Einträge aus Internetforen, in denen Betroffene von den Symptomen nach dem Absetzen von SSRI berichteten. Die Forscherin Carlotta Belaise und ihre Kollegen kamen zu dem Schluss, dass sich der Entzug in zwei Phasen unterteilt:

  1. Die Entzugsphase, die bis zu sechs Wochen dauert, und in der immer wieder neue Beschwerden sowie Rebound-Symptome auftreten. Letztere sind Symptome, die durch die Einnahme des Antidepressivums verschwinden und durch das Absetzen häufig besonders stark wiederkehren, z. B. Freud- und Antriebslosigkeit
  2. Der Langzeitentzug, der Monate bis Jahre dauern kann. Dabei können unter anderem Symptome wie Ängste, Depressionen, Stimmungsschwankungen, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder schlechte Stresstoleranz auftreten, also auch ganz neue Symptome, die vor der Einnahme der Mittel noch nicht da waren ( 6 ).

Auch bei Frau A. war der Verlauf ähnlich wie in der Untersuchung beschrieben. Die Symptome begannen mit Absetzen des Antidepressivums und wurden im Laufe der Zeit nicht besser − ganz im Gegenteil. Nach zwei bis drei Monaten kamen sogar neue Symptome hinzu, zu denen unter anderem anhaltende und sich verschlechternde Angstsymptome zählten.

Frau A. begann etwa drei Monate nach dem Absetzen wieder mit der Einnahme von Venlafaxin, um die Symptome wieder loszuwerden. Doch blieb ihr seit dem Absetzen ein Symptom erhalten, das auch zwei Jahre später noch nicht verschwunden war – ein ständig präsenter Tinnitus ( 2 ).

Wer besonders gefährdet ist, schwere Symptome zu entwickeln

Einige Studien zeigen, dass unter anderem Menschen, die über längere Zeit hinweg Antidepressiva einnehmen, also über mehrere Jahre, sowie jene, die die Dosis schnell reduzieren, gefährdeter sind, schwere Symptome zu entwickeln. Zudem zeigte sich, dass bestimmte Antidepressiva schwerere Symptome nach dem Absetzen verursachen können als andere ( 2 ).

Antidepressiva, die beim Absetzen schwere Symptome verursachen können

Ob ein Antidepressivum beim Absetzen leichte oder schwere oder vielleicht auch gar keine Symptome verursacht, hängt von der sogenannten Halbwertszeit des Medikamentes ab. Die Halbwertszeit ist die Zeit, in der die Hälfte des Wirkstoffes vom Körper abgebaut oder ausgeschieden wurde – Medikamente mit kürzerer Halbwertszeit müssen daher häufiger eingenommen werden.

So treten beim Absetzen von Antidepressiva, die eine kürzere Halbwertszeit aufweisen und daher schneller abgebaut werden, z. B. Paroxetin und Venlafaxin, häufiger und oftmals schwerere Entzugssymptome auf als bei jenen, die länger im Körper bleiben. Während beim Antidepressivum Venlafaxin beispielsweise die Hälfte des Wirkstoffes in 3-13 Stunden abgebaut wird, ist dies bei Fluoxetin erst in 84-144 Stunden, also in etwa vier Tagen, der Fall.

Neben Paroxetin und Venlafaxin gibt es noch andere Antidepressiva, die eine deutlich kürzere Halbwertszeit als Fluoxetin aufweisen, wodurch beim Absetzen auch häufiger Entzugssymptome auftreten können. Dazu zählen etwa die folgenden Mittel (ihre Halbwertszeit reicht je nach Medikament von einigen Stunden bis zu etwas mehr als einem Tag) ( 7 ):

  1. Die SRRIs Citalopram, Escitalopram und Sertralin
  2. Die atypischen Antidepressiva Bupropion, Duloxetin, Mirtazapin, Trazodon
  3. Der Monoaminooxidase-Hemmer Phenelzin
  4. Die trizyklischen Antidepressiva Amitriptylin, Desipramin, Doxepin, Imipramin und Nortriptylin

Absetzen von Antidepressiva: Wie Symptome verringert werden können

Das Absetzen von Antidepressiva sollte bei längerer Einnahme oder höherer Dosierung über einen längeren Zeitraum erfolgen. Man spricht daher von einem Ausschleichen. Ein erfolgreiches Absetzen kann somit häufig Monate oder sogar Jahre in Anspruch nehmen und sollte vorher mit einem erfahrenen Facharzt besprochen werden. Der Aufklärungsbogen für Antidepressiva des Pfalzklinikums in Deutschland empfiehlt dabei folgende Punkte, die sich bei einigen Betroffenen als hilfreich erwiesen haben:

  1. Sich vorab über mögliche Entzugssymptome informieren, um bei deren Auftreten vorbereitet zu sein
  2. Den Absetzprozess planen, möglichst unter therapeutischer Begleitung
  3. Den richtigen Zeitpunkt mit möglichst geringen äußeren Belastungsfaktoren wählen, z. B. Urlaub, um arbeitsbedingten Stress zu vermeiden
  4. In der Zeit des Absetzens keine wesentlichen Änderungen der Lebensweise vornehmen

Weitere Dinge, die für einen gesunden Lebensstil und auch in der Absetzzeit wichtig sind:

  1. Sich regelmäßig bewegen, z. B. Rad fahren, spazieren, joggen, tanzen, schwimmen
  2. Auf eine gesunde Ernährung mit viel frischem Gemüse und Obst sowie gesunden Fetten und Vollkornprodukten achten
  3. Sich selbst Gutes tun durch wohltuende Musik, angenehme Literatur sowie positive soziale Kontakte
  4. Entspannungsübungen wie etwa progressive Muskelentspannung, Achtsamkeitsübungen oder Meditationen in den Alltag einbauen
  5. Auf ausreichend und regelmäßigen Schlaf achten – am besten noch vor Mitternacht ( 8 )

Die ganzheitliche Psychiaterin und Autorin Kelly Brogan beschreibt in ihrem Buch * Die Seele braucht keine Pillen ein 30-Tage Programm, das Betroffene optimal darauf vorbereiten soll, Antidepressiva (oder andere Psychopharmaka) auszuschleichen und beschreibt auch, wie während des Ausschleichens vorgegangen werden soll und welche Mittel unterstützend wirken.

Bei der Vorbereitung unterstützend wirken können ihrer Erfahrung nach z. B.:

  1. Den Körper für den Umgang mit Stress trainieren, etwa durch Atemübungen
  2. Das Nervensystem mit Nahrungsergänzungsmitteln stärken und beruhigen. Dazu können etwa die Mineralstoffe Magnesium und Zink oder das Antioxidans N-Acetylcystein eingenommen werden. Auch GABA, kurz für Gamma-Aminobuttersäure, eignet sich dafür. GABA ist ein wichtiger Neurotransmitter und eine Aminosäure, die im Gehirn gebildet wird. Nicht zuletzt können viele Kräuter wie Zitronenmelisse, Basilikum oder Lavendel dazu beitragen, Absetzsymptome zu lindern.
  3. Wunden aus der Kindheit heilen durch Traumatherapie z. B. mithilfe von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing)

🌟 Bewerten Sie unsere Arbeit 🌟

Auf unserem Portal Zentrum der Gesundheit haben wir mittlerweile mehr als 2700 Artikel zu zahlreichen Themen rund um Gesundheit, Ernährung und Naturheilkunde veröffentlicht. Wenn Sie Zeit und Lust haben, freuen wir uns über Ihre Bewertung unseres Portals bei Trustpilot.

Wichtiger Hinweis

Dieser Artikel wurde auf Grundlage (zur Zeit der Veröffentlichung) aktueller Studien verfasst und von MedizinerInnen geprüft, darf aber nicht zur Selbstdiagnose oder Selbstbehandlung genutzt werden, ersetzt also nicht den Besuch bei Ihrem Arzt. Besprechen Sie daher jede Massnahme (ob aus diesem oder einem anderen unserer Artikel) immer zuerst mit Ihrem Arzt.