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28 min

Paleoernährung: Die moderne Steinzeiternährung

Mit Paleoernährung ist eine Ernährung gemeint, bei der so gut wie möglich die Ernährung unserer Vorfahren in der Steinzeit imitiert werden soll. Richtig umgesetzt kann die Paleoernährung auch tatsächlich eine gute Idee und sehr gesund sein. Allerdings bedeutet paleo nicht zwangsläufig, dass grosse Mengen Fleisch oder andere tierische Lebensmittel gegessen werden.

Aktualisiert: 10 März 2024

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Idee der Paleoernährung

Auf der Suche nach einer artgerechten und gesunden Ernährung für den Menschen hat man lange im luftleeren Raum agiert – ohne saubere wissenschaftliche Herangehensweise, ohne Forschungsparadigma. In dieser Situation wurde erst 1985 im New England Journal of Medicineein Artikel veröffentlicht, in dem eine interessante und auch sehr plausible Hypothese aufgegriffen wurde:

The diet of our remote ancestors may be a reference standard for modern human nutrition and a model for defense against certain ‘diseases of civilization’. [Übersetzung: Die Ernährung unserer prähistorischen Vorfahren (Paleoernährung) könnte ein Modell auch für die moderne menschliche Ernährung sein, insbesondere um den „Zivilisationserkrankungen“ entgegenzuwirken.]

Moderne Paleoernährung

Die dahinter stehende Überlegung ist: Unsere Biologie, unsere Umweltfaktoren und unsere Lebensweise passen heutzutage immer schlechter zusammen (S. Boyd Eaton und Melvin J. Konner prägten in diesem Zusammenhang den Begriff „Discordance/Mismatch Hypothesis“( 1 ). Dies äussere sich im endemischen Auftreten der typischen westlichen Zivilisationserkrankungen.

Durch Nachahmung der Lebensweise unserer sammelnden und jagenden Vorfahren könnte der zivilisiert-moderne Mensch demnach den Weg zurück zu besserer Gesundheit finden und einen gewissen Schutz vor chronisch-degenerativen Krankheiten erfahren. Die Idee des Paleo-Lifestyles samt Paleoernährung ist es also, den Lebensstil und die Kostform unserer nomadisch lebenden, jagenden und sammelnden Vorfahren unter Nutzung der Errungenschaften der Moderne nachzuahmen – wohlwissend, dass die Ernährung nur EIN Lebensbereich darstellt und ausserdem ein Weg zurück in die Steinzeit weder möglich noch erstrebenswert ist.

Infolgedessen war mit dem Aufsatz von Eaton und Konner 1985 auch gleichzeitig ein Forschungsparadigma für die Ernährungswissenschaft geboren, auf dessen Basis wissenschaftliche Hypothesen generierbar sind. Doch obwohl diese Hypothese so einleuchtet, besteht das Problem, dass vom Paläolithikum (Altsteinzeit) heute nur noch steinerne Überreste übriggeblieben sind. Daher wissen wir heute weder im Detail wie die Steinzeitmenschen gelebt haben noch wie konkret ihre einstige Paleoernährung ausgesehen haben könnte.

Wie ass man in der Steinzeit?

DIE Steinzeiternährung der Menschen festzulegen, ist also unmöglich. Nicht zuletzt deshalb, da sich der Zeitraum des Paläolithikums über mehr als 150.000 Jahre erstreckte (ca. 200.000 v. Chr. bis vor ca. 12.000 Jahren). Wie heute schon hat es ausserdem stets kulturelle und saisonale Unterschiede im Ernährungsverhalten unserer Vorfahren gegeben. Dennoch gibt es bestimmte Grundmuster, die durchaus jeder Variation der Paleoernährung zugrunde liegen dürften:

  1. Jegliche Erzeugnisse von Ackerbau und Viehzucht, beides erst vor rund 12.000 Jahren erfunden, wurden bei der Paleoernährung unserer Vorfahren höchstens in marginalen Mengen verzehrt (Getreide, Milch, Hülsenfrüchte).
  2. Jegliche Weiterverarbeitung wie sie heute die Nahrungsmittelindustrie betreibt, war nicht existent (Zusatzstoffe, Pasteurisierung u.v.a.m.)
  3. Jegliche Lebensmittel waren in der einstigen Paleoernährung von natürlicher Qualität. Pflanzen gediehen auf fruchtbaren Humusböden ohne Kunstdünger und ohne Pestizide. Tiere lebten mit ihrer natürlichen Nahrung in freier Wildbahn und kamen weder mit Kraftfutter ( Mais und Gen-Soja) noch mit Medikamenten in Berührung.

Allerdings ist es mithilfe archäologischer Untersuchungen und Feldstudien an heute lebenden Jäger- und Sammlerkulturen möglich, einen detaillierteren Einblick in traditionelle, altsteinzeitliche Lebensweisen zu bekommen. Denn diese haben sich bei modernen Naturvölkern über die Jahrtausende vermutlich kaum verändert. Von diesen Populationen gibt es leider nur noch weniger als 150 auf der ganzen Welt – und auch diese Völker sind bereits vom Aussterben bedroht.

Schauen wir uns zwei solcher Völker näher an: Wie ernähren sie sich, wie leben sie heute, und wie gesund sind sie? Im Folgenden sollen die Lebensweisen der grönländischen Inuit (Inuuk/„Eskimos“) und der Kitavi (auch Melanesier genannt) von der tropischen Insel Papua Neuguinea beleuchtet werden.

Die Steinzeiternährung der Inuit

Die Inuit werden gerne als Beispiel für eine urtümliche Ernährung und als Vorbild der Paleoernährung herangezogen, wenn nahezu ausschliesslich Fleisch und Fisch gegessen wird. Diese Nahrungsmittelauswahl ist jedoch am äussersten Rand eines Spektrums menschlich tolerierbarer Ernährung anzusiedeln und hat ihren historischen Ursprung im Bevölkerungswachstum und der damit einhergehenden Notwendigkeit zur Migration in polare Gefilde. Ausserdem ist es durchaus fraglich, ob das Vorurteil von der rein tierischen Ernährung der Inuit wirklich stimmt.

Zwar steht den Inuit saisonal nur sehr begrenzt frische pflanzliche Nahrung zur Verfügung, z. B. in Form von Blüten, Seetang (Kelp), grünes Blattgemüse und Beeren. Dennoch werden diese pflanzlichen Lebensmittel von den Inuit auch durch Trocknung oder Einfrierung bzw. Fermentation haltbar gemacht und eingelagert. Auf diese Weise können sie ihre von tierischen Produkten dominierte Nahrung ganzjährig mit pflanzlicher Kost ergänzen.

An tierischer Nahrung essen die Inuit hauptsächlich Wal- und Robbenfleisch, davon insbesondere die Innereien wie z. B. die Leber und die Nebennieren sowie bestimmte Hautschichten .Dadurch sichern sich die Inuit ihren Bedarf an Vitamin C. Stämme, die keinen Zugang zu Meerestieren haben, garantieren sich durch den Verzehr der Nebennieren und der Magenwand der erlegten Wildtiere ihren Vitamin-C-Bedarf.

Ausserdem essen sie Gehirn, Herz, Knochenmark, Leber und sogar die Hoden des erlegten Wilds. In diesem Zusammenhang ist den Inuit anscheinend bewusst, dass sie sich mit dem hauptsächlichen bzw. ausschliesslichen Verzehr des mikronährstoffarmen Muskelfleisches, wie es Teil des westlichen Lebensstils ist, schwere Mangelkrankheiten einhandeln könnten, die letztlich auch lebensbedrohlich sind.

Die Inuit verfüttern infolgedessen den Grossteil des Muskelfleisches an ihre Hunde und machen sich selbst über die rohen Innereien her. Zum Teil kratzen sie auch Moose von Steinen oder essen den Mageninhalt von Elchen, um an pflanzliche Lebensmittel und bestimmte Vitamine und Mineralien zu gelangen.

Die Paleoernährung der Kitavi

Der Lebensstil und die Ernährung von noch urzeitlich lebenden Völkern in tropischen Gefilden weicht in einigen Punkten stark von Populationen ab, die in Polarregionen leben. Der Anteil tierischer Nahrung sowie die Gesamtkalorienaufnahme sind hier insgesamt geringer, während der Kohlenhydratanteil deutlich höher ist – nicht zuletzt aufgrund des reichen Früchte- und Gemüseangebots in den Tropen.

Naturvölker haben intuitiv gelernt, ihre Ernährung bedarfsgerecht an ihre Umweltfaktoren anzupassen: So müssen Tropenbewohner Vitamin D nicht – wie die Inuit– mit der Nahrung aufnehmen, da sie täglich einer ausreichenden Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind und ihr Körper daher Vitamin D selbst produzieren kann. Auch ist ihr Energieverbrauch durch die höheren Aussentemperaturen niedriger.

Detailliert unterscheidet sich daher der Lebensstil der Kitavi aus Papua-Neuguinea von dem der Inuit in folgenden Punkten:

  1. Die Kitavi haben ganzjährigen Zugang zu frischer pflanzlicher Nahrung.
  2. Da sie weniger tierisches Protein zu sich nehmen, ist ihr benötigtes Bewegungspensum niedriger, sie sind eher moderat als intensiv körperlich aktiv (2).
  3. Ihre Ernährung enthält reichlich gesättigte Fette in Form von Kokosfett sowie ausreichend Omega-3-Fettsäuren durch das Essen von Meeresfrüchten und Fisch.
  4. Sie verzehren Kohlenhydrate in Form von Gemüse, Wurzeln und Knollen ( Süsskartoffeln, Maniok, Yamswurzel, Taro/Wasserbrotwurzel, Bananen etc.). Das Verhältnis von Omega-6- zu Omega-3-Fettsäuren beträgt 1:2 (Werte in westlichen Industrienationen: ca. 10:1 bis 25:1).
  5. Einem Interview mit einem Kitavi zufolge werden täglich 2 grössere Mahlzeiten verzehrt: Morgens grünes Blattgemüse und Wurzeln in Kokosfett und Salz gebraten. Abends dasselbe mit Zugabe von Fisch und Meeresfrüchten, die mitsamt ihrer Innereien zubereitet werden. Dazwischen werden Früchte und junge Kokosnüsse gegessen.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs ( 14 ), Diabetes, Bluthochdruck, Akne, Demenz, Übergewicht oder andere chronisch-degenerative Erscheinungen sind bei den Kitavi quasi unbekannt ( 3 ), treten jedoch auf, sobald sie die westliche Lebensweise übernehmen ( 4 ). Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese westlichen Krankheiten nicht genetisch, sondern durch Umweltfaktoren, Ernährung und Lebensstil bedingt sind.

Welche Paleoernährung ist die beste?

Doch welche Paleoernährung ist nun die beste? Die der Inuit in Grönland? Oder die Paleoernährung der Kitavi in tropischen Regionen? Isst man besser viel Fleisch und wenig Gemüse – wie die Inuit? Oder wäre die Kitavi-Ernährung aus Gemüse, Früchten, Kokosnüssen und Wurzeln und dazu etwas Fisch und Meeresfrüchte empfehlenswerter?

Traditionell lebende Inuit haben eine geringere Lebenserwartung als andere Urvölker: Sie liegt unter Herausrechnung der Säuglingssterblichkeit bei ca. 43,5 Jahre, während sie bei den Kitavi bei beachtlichen 75 Jahren unter ähnlichen Prämissen ( 5 ) liegt. Jedoch sinkt auch die Lebenserwartung der Inuit weiter, wenn sie die westlich-moderne Lebensweise übernehmen ( 6 ); die Häufigkeit chronisch-degenerativer Krankheiten ist dann deutlich erhöht.

Der Vergleich von Kitavi und Inuit ist ein erster Anhaltspunkt dafür, dass eine sehr fleischlastige Paleoernährung, wie sie die Inuit praktizieren, zwar durchaus im Bereich des menschlich Tolerierbaren liegt, aber wohl eher den Zwängen eines Lebens in polaren Regionen entspringt als einer rein gesundheitlichen Rationale. Das Hinzufügen von reichlich frischen pflanzlichen Lebensmitteln zu jedweder Form der Paleoernährung dürfte daher sehr vorteilhaft sein.

Beide Völker ernähren sich „paleolithisch“. Die Ausgestaltung der Paleoernährung nach jener der Kitavi scheint jedoch, obigen Ausführungen zufolge, dem Lebensstil der Inuit gesundheitlich überlegen zu sein. Demgemäss könnte eine moderne westliche Steinzeit- bzw. Paleoernährung folgendermassen aussehen und dabei sogar die Regeln der basenüberschüssigen Ernährung erfüllen:

Paleoernährung in der Moderne

Das Hauptkriterium der basenüberschüssigen Ernährung ist die 80-20-Regel. Das heisst: 80 % der Ernährung wird aus sog. basischen Lebensmitteln zusammengestellt, 20 % aus zwar säurebildenden, aber gleichzeitig hochwertigen Lebensmitteln (sog. „gute Säurebildnern“( 7 ). Gestalten Sie daher in der modernen Paleoernährung rund 80 % der Telleroptik aus pflanzlicher Kost. Ein Zuviel an tierischen Proteinen kann zu unangenehmen Nebenwirkungen führen. Bei einem völligen Fehlen tierischer Lebensmittel (Innereien, Ei, Fisch) hingegen oder auch wenn deren Anteil in der Ernährung geringer ist als der individuelle Bedarf, sollte die Supplementation bestimmter Vitamine und Nährstoffe (z. B. B12, D3, DHA etc.) in Erwägung gezogen werden.

Der Steinzeiternährung gemäss sollte der Grossteil Ihrer Proteinzufuhr aus tierischen Lebensmitteln bestehen, also nicht – wie z. B. in der vegetarisch-veganen Ernährung üblich – aus Hülsenfrüchten, Nüssen und Getreide stammen. Muskelfleisch kommt nur in sehr geringen Mengen in Frage. Stattdessen stehen auf dem Speiseplan Innereien, Meeresfrüchte, Fisch, Eier, aber auch Algen. Tasten Sie sich heran, indem Sie den Muskelfleisch-Anteil in Ihrer Ernährung kontinuierlich reduzieren und den Innereien-Anteil erhöhen.

Rohmilch und deren Produkte können – wenn Sie sicher sind, Milch zu vertragen – ebenso eine Alternative darstellen wie Insektenprotein. Denn tierische Proteinquellen (ausser rohes Eiklar, wenn es in übermässigen Mengen verzehrt wird) haben – gegenüber Getreide und Hülsenfrüchten – einen Vorteil: Sie sind weitgehend frei von Antinährstoffen.

Allerdings sollten Sie auf eine einwandfreie Herkunft Ihrer tierischen Lebensmittel achten: Es kommen nur solche Produkte in Frage, die aus artgerechter Fütterung, aus Weidehaltung (bei Fisch aus Bio-Aquakultur) oder aus Wildbeständen (wenn es ökologisch vertretbar ist) stammen. Die Orientierung an Qualitätskriterien dieser Art sollte nicht nur als Konsument von Interesse sein, sondern auch als in einer Demokratie politisch aktiver Staatsbürger.

Der Paleo-Lifestyle besteht jedoch aus weit mehr als nur der Paleoernährung: Denn ausreichend Bewegung, frische Luft, Sonnenlicht, Stressausgleich, soziale Verbundenheit und Schlafqualität spielen eine ähnlich wichtige Rolle als allein die richtige Steinzeiternährung.

Wissenschaftliche Evidenz der Paleoernährung

Dass eine solche Paleoernährung auch beim westlich-zivilisierten Menschen Vorteile mit sich bringt, ist durch Humanexperimente, bei denen verschiedene gesundheitliche Parameter erhoben wurden, mittlerweile recht gut belegt. Sie ist sogar der oft zitierten „Mediterranen Diät“ in Studien überlegen gewesen ( 9 ) ( 10 ) ( 11 ). Die eingangs geschilderte „Mismatch“-Hypothese ist also eigentlich längst keine Hypothese mehr. Sie steht vielmehr auf einem stabilen wissenschaftlich-experimentell abgesicherten Fundament und ist ein hilfreicher Leitfaden zur Gestaltung der eigenen gesunden Paleoernährung – vor allem für all jene Menschen, die sich einen fleischlosen Lebensstil nicht vorstellen können. (Hier endet der Artikel von Erik Pfeiffer).

Vortrag: Paleoernährung – Nur ein Modetrend?

Unterstützt wird das oben Gesagte von Dr. Christina Warinner. Sie promovierte 2010 an der Harvard University und ist Pionierin auf dem Gebiet der biomolekularen Erforschung archäologischen Zahnsteins – einer Methode, an der sich sehr gut die Ernährung und Gesundheit der Menschen in der Steinzeit und früheren Epochen erkennen lässt ( 15 ).

In ihrem Vortrag "Debunking The Paleo Diet" legt sie dar, dass es für eine fleisch- und eierlastige Paleoernährung keine wissenschaftlichen Belege gibt. Auch erklärt Dr. Warinner, dass eine echte Paleoernährung heute kaum noch umgesetzt werden kann, da die meisten Kulturgemüse und -früchte mit den Ursprungspflanzen aus der Urzeit nicht mehr viel gemein haben. Die Paleoernährung sei daher lt. Warinner nichts weiter als eine Modeerscheinung, die vielen Menschen gerade recht kommt, um ihren hohen Fleischkonsum zu rechtfertigen. Nachfolgend lesen Sie Dr. Warinners Vortrag:

"Ich bin Archäologin und mein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Gesundheits- und Ernährungsgeschichte unserer menschlichen Vorfahren. Hierzu führe ich unter anderem biochemische Untersuchungen von Knochenfunden durch sowie Analysen urzeitlicher DNA. Heute allerdings bin ich hier, weil ich Ihnen etwas über die so genannte Paleoernährung erzählen möchte. Hierbei handelt es sich – zumindest in Amerika – um einen der am schnellsten wachsenden und beliebtesten Modetrends im Bereich der Ernährung.

Die Grundidee hinter der Paleoernährung ist die folgende:

  1. Der Schlüssel zu einem langen Leben und optimaler Gesundheit besteht in einem Verzicht auf die moderne Ernährungsweise aus landwirtschaftlich erzeugten Lebensmitteln, da diese andernfalls krankmachen würden, weil sie angeblich nicht mit unseren biologischen Voraussetzungen übereinstimmen würden.
  2. Stattdessen sollten wir uns gedanklich in die Zeit unserer Vorfahren zurückbegeben und so essen wie es in der Altsteinzeit vor etwa 10.000 Jahren üblich gewesen sei.

Ich muss sagen, dass mich diese Idee an sich ausserordentlich fasziniert, vor allem deshalb, weil wir in diesem Zusammenhang Archäologie einmal praktisch anwenden können – und wir als Archäologen Informationen, die wir der Vergangenheit entrissen haben, tatsächlich in der Gegenwart nutzen können – und zwar direkt zu unserem eigenen Vorteil.

Paleo-Befürworter glauben zu wissen, was in der Steinzeit gegessen wurde

In vielen Büchern über die Paleoernährung ("Urzeitliche Blaupause" (orig.: "Primal Blueprint"), "New Evolution Diet" und "Neanderthin" (etwa: Dünn wie die Neandertaler) beruft man sich direkt auf die Anthropologie, die Ernährungswissenschaft und die Evolutionsmedizin (was lt. Dr. Warinner jedoch nicht korrekt ist – Anm. der ZDG-Redaktion). Die favorisierte Zielgruppe scheinen Männer zu sein – zumindest deutet die Werbung für die Paleo-Ernährung bzw. für Paleoprodukte daraufhin, zeigt sie doch ganz besonders virile Männer, die mit Begeisterung viel rotes Fleisch essen und Sätze sagen, wie "Lebe ursprünglich!".

Man signalisiert also, genau zu wissen, wie die damalige Ernährung ausgesehen hat – nämlich rot und blutig. Bevorzugt von Fleisch habe man sich ernährt, heisst es da, ergänzt von etwas Gemüse, Obst und ein paar Nüssen. Aber sicherlich hätten keinerlei Getreide und auch keine Hülsenfrüchte oder Milchprodukte auf dem Speiseplan gestanden.

Paleo-These hat kein archäologisch-wissenschaftliches Fundament

Leider findet die Version der Paleoernährung, wie sie heute präsentiert wird – ob in Büchern, Talkshows, Webseiten, Foren oder Zeitschriften – keinerlei Begründung in der archäologischen Wirklichkeit. Gerne erkläre ich Ihnen auch, warum das so ist und werde im Folgenden so manchen Mythos ad absurdum führen, besonders dann, wenn behauptet wird, man stütze sich auf fundamentale archäologisch-wissenschaftliche Konzepte.

Abschliessend möchte ich darüber reden, was wir WIRKLICH – aus wissenschaftlicher, archäologischer Sicht – über die Ernährungsweise unserer steinzeitlichen Vorfahren wissen, also darüber, was wirklich auf der Speisekarte der Menschen in der Altsteinzeit zu finden war.

Mythos Nummer 1: Der Mensch ist für reichhaltigen Fleischverzehr geschaffen

Mythos Nummer 1 ist, dass der menschliche Körper für einen umfangreichen Fleischverzehr wie geschaffen sein soll, und Steinzeitmenschen daher grosse Mengen an Fleisch zu sich genommen haben.

In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass der Mensch über keine bekannten anatomischen, physiologischen oder genetischen Anpassungen (Adaptationen) verfügt, die ihm den Fleischkonsum besonders erleichtern würden.

Für den Verzehr von Pflanzenkost hingegen sind wir wie geschaffen. Nehmen wir zum Beispiel das Vitamin C. Fleischfresser müssen Vitamin C selbst synthetisieren können, da sie nur wenig Vitamin-C-reiche Pflanzenkost zu sich nehmen. Der Mensch kann kein Vitamin C bilden, er muss es also mit reichlich pflanzlicher Nahrung zu sich nehmen.

Überdies weisen wir eine andere Darmflora sowie einen bedeutend längeren Verdauungstrakt als Fleischfresser auf, da pflanzliche Nahrung länger im Körper bleiben muss, um gut verdaut zu werden. Für die Verdauung von Fleisch aber würde ein kurzer Darm genügen.

Wir haben ein Gebiss mit grossen Mahlzähnen/Backenzähnen, mit deren Hilfe wir ballaststoffreiches, pflanzliches Gewebe perfekt zerkleinern können. Wir weisen hingegen kein für Fleischfresser typisches, so genanntes Scherengebiss auf, welches eindeutig von Vorteil wäre, wenn man Tiere reissen und ihr Fleisch zerkleinern wollte.

Für Milchverzehr gibt es Anpassungen, nicht aber für Fleischverzehr

Dennoch verfügen einige menschliche Populationen über genetische Mutationen, die den Konsum tierischer Produkte begünstigen – allerdings reden wir an dieser Stelle nicht von Fleisch, sondern von Milch (Stichwort Lactose – Anm. d. ZDG-Redaktion).

Für einen überwiegenden Fleischverzehr aber sind wir nicht ausgestattet – schon gar nicht wenn das Fleisch von gemästeten domestizierten Rindern aus der Massentierhaltung stammt. Fleisch, das von einem Menschen in der Altsteinzeit gegessen worden wäre, war mit allergrösster Wahrscheinlichkeit sehr viel magerer, mit Sicherheit wären die Portionen zudem kleiner gewesen – und insgesamt ass man einfach nicht so viel Fleisch.

Klar, Knochenmark und Innereien haben bei der einstigen Ernährung eine Rolle gespielt, die nicht zu vernachlässigen ist. Es gibt eine Menge Hinweise darauf, dass das Knochenmark von Tieren genutzt wurde, was man an einer charakteristischen Bearbeitungsweise von Tierknochen erkennen kann, die eine Extrahierung des Knochenmarks überhaupt erst möglich machte.

(Wahrscheinlich haben sich unsere Vorfahren bevorzugt über die Reste hergemacht, die von Raubtiermahlzeiten übriggelassen wurden, wodurch man eigene Jagdaktivitäten vermeiden konnte – Anm. d. ZDG-Redaktion).

Damit wir uns darüber also im Klaren sind: Ja, sicher, die Menschen haben auch Fleisch gegessen, vor allem in den arktischen Gebieten und in Gegenden, in denen über längere Zeiträume pflanzliche Nahrung einfach nicht vorhanden war. In all diesen Gebieten wurde tatsächlich sogar sehr viel Fleisch gegessen.

Aber Menschen, die in gemässigteren Klimazonen oder in den Tropen gelebt haben, haben einen überwältigenden Grossteil ihrer Ernährung aus pflanzlichen Quellen bestritten.

Woher stammt der Fleischmythos?

In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Aspekte zu nennen. Erstens: Knochen haben über die Jahrtausende einfach eine bessere Haltbarkeit als Pflanzen. Das bedeutet, den Archäologen liegen viel mehr Knochen für Untersuchungszwecke vor als pflanzliche Nahrungsrückstände, was zur vorschnellen Schlussfolgerung führen könnte: Mehr Knochen, mehr Fleischnahrung.

Zweitens: Es kommen gewisse Analyseverfahren (biochemische Studien) zum Einsatz, die nicht wirklich zuverlässig sind, wie z. B. die sog. Stickstoffisotopenuntersuchung, die folgendermassen funktioniert: Sicher kennen Sie den Spruch: "Man ist, was man isst". Hier bedeutet er dies: Es gibt Stickstoff-15 und Stickstoff-14 – die schwere und die leichte Isotopenform des elementaren Stickstoffs – und wir nehmen diese Isotope des Stickstoffs über unsere Nahrung auf.

Je höher sich nun ein Individuum in der Nahrungskette befindet, desto höher ist der Anteil des schweren Stickstoff-Isotops in seinen Knochen und Zähnen. Die Nahrungskette ist so aufgebaut, dass Pflanzen ganz unten angesiedelt sind, darüber die Pflanzenfresser stehen und über diesen wiederum die Fleischfresser. Also glaubte man bisher, man könne die Ernährung eines Lebewesens ganz einfach mit Hilfe der Stickstoffisotopenanalyse herausfinden.

Wissenschaftliche Messmethoden nicht zuverlässig

Das grosse Problem besteht nun aber leider darin, dass längst nicht alle Ökosysteme den gleichen Regeln gehorchen, mithin also dieses Modell nicht auf alle Ökosysteme so ohne weiteres anwendbar ist.

So gibt es beispielsweise starke regionale Unterschiede, und wenn man als Forscher die Gegebenheiten einer bestimmten Region nicht hundertprozentig versteht, kann man schnell zu falschen Schlussfolgerungen kommen.

Nehmen wir Ostafrika: Wenn wir Menschen und Tiere aus Ostafrika nach dieser Methode vermessen, stellen wir schnell ein paar Seltsamkeiten fest. Ein Mensch weist dort höhere Werte auf als ein Löwe. Löwen essen ausschliesslich Fleisch. Und trotzdem steht der Mensch über dem Löwen? Wie kann das sein?

Nun, ganz einfach: Die Lebensmittel, die man zu sich nimmt, sind längst nicht der einzige Faktor, der in diese Isotopen-Werte hineinspielt. Auch das Klima (z. B. die Aridität) der Region kann eine gewichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielen. Oder wie leicht der Zugang zu Wasser gestaltet werden kann.

In tropischen Gebieten ist es nicht viel anders. Bei den antiken Maya beispielsweise finden wir ebenfalls interessante Anomalitäten. Hier sind die Werte vergleichbar mit den im gleichen Gebiet lebenden Jaguaren. Wir wissen jedoch, dass die Maya eine Ernährungsweise verfolgten, die extrem abhängig von Mais gewesen ist. Wie können wir die Werte hier also erklären?

Eine hieb- und stichfeste Antwort haben wir noch nicht gefunden, doch könnte hier auch die Art der Maya-Landwirtschaft und der Agrarprodukte mitspielen, von denen sie lebten.

Noch viel früher – im Pleistozän, einem Erdzeitalter, das vor ca. 2,6 Millionen Jahren begann und 2,5 Millionen Jahre anhielt – gab es bereits Rentiere. Sie sind reine Pflanzenfresser. Dennoch kommen in diesem Zeitalter auch Wölfe auf dieselben Stickstoffisotopenwerte wie die Rentiere.

Bei den Mammuten hingegen konnte man ganz unterschiedliche Werte finden, sowohl Werte auf der Ebene der Pflanzen, der Ebene der Pflanzenfresser und sogar Werte, die für reine Fleischfresser sprechen würden.

Wenn wir nun einen genaueren Blick auf den Menschen dieser Zeit, auf Steinzeitmenschen und Neandertaler werfen, dann fällt auf, dass sie in der Messwert-Tabelle denselben Raum einnehmen, wie ihre zeitgenössischen Wölfe und Hyänen. Und schon wird geschlussfolgert: Menschen waren Fleischfresser.

Warum aber sollten hier die Messwerte zuverlässig auf eine Fleisch-Ernährung hinweisen? Zumal Wölfe dieselben Werte wie Rentiere aufweisen? Und Mammute aufgrund ihrer Werte teilweise zu den reinen Fleischfressern zählen?

2. Mythos: In der Steinzeit gab es weder Getreide noch Hülsenfrüchte

Kommen wir zum zweiten Mythos, der besagt, dass die Menschen in der Steinzeit weder Vollkorngetreide noch Hülsenfrüchte zu sich genommen hätten.

Wir verfügen über Funde, genauer über Steinwerkzeuge, die mindestens 30.000 Jahre alt sind, und damit 20.000 Jahre älter sind, als es die Erfindung der Landwirtschaft ist.

Schon zu dieser Zeit setzten die Menschen Steinwerkzeuge ein, die wie heutige Mörser aussehen und mit denen Samen und Getreide gemahlen wurden.

Vor einiger Zeit haben wir Techniken entwickelt, mit deren Hilfe wir Zahnstein (versteinerte Plaque) analysieren können. Wir können menschlichen Schädelfunden diese Plaque entziehen und mittels unserer Technik darin Mikrofossilien bestimmen, sowohl pflanzlicher als auch anderer Herkunft. Wir sehen also am Zahnstein, von welchen Lebensmitteln sich der Zahnsteinbesitzer am liebsten ernährt hat.

Zwar steckt dieser Forschungszweig noch in den Kinderschuhen, aber selbst vor dem Hintergrund der begrenzten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die uns zur Verfügung stehen, können wir eindeutig sagen, dass wir im Zahnstein der Steinzeitmenschen ausreichend hohe Mengen an pflanzlichen Rückständen feststellen konnten, um erstens auszuschliessen, dass sie bevorzugt von Fleisch gelebt hatten und um zweitens zu bestätigen, dass sie nebst pflanzlichen Knollen längst auch Getreide (besonders Gerste) und Hülsenfrüchte assen.

3. Mythos: Paleo-Lebensmittel sind Lebensmittel, die auch schon der Steinzeitmensch ass

Dieser Mythos besagt, dass die Lebensmittel, die für die heutige Paleoernährung empfohlen werden, genau jene Lebensmittel seien, von denen sich auch unsere altsteinzeitlichen Vorfahren ernährt hätten. Natürlich ist auch das nicht wahr.

Bei jedem einzelnen heute verzehrten Lebensmittel handelt es sich um ein gezüchtetes, also domestiziertes landwirtschaftliches Produkt. Wildformen gibt es schon lange nicht mehr.

Beispiel Banane

Nehmen wir als Beispiel die Banane. Bananen sind eigentlich das ultimative Agrar-Produkt. In der Wildnis auf sich alleine gestellt, können sich Bananen nicht reproduzieren, was daran liegt, dass wir ihnen die Fähigkeit weggezüchtet haben, Samen auszubilden.

Daher ist jede einzelne Banane, die Sie jemals gegessen haben, ein genetischer Klon einer jeden anderen Banane – aus Ablegern aufgezogen. Bananen sind also eindeutig ein Lebensmittel aus landwirtschaftlicher Produktion und nicht für eine authentische Paleoernährung geeignet, obwohl sie in vielen Büchern als sehr gut dafür geeignet bezeichnet werden.

Würden Sie heute eine wilde, ursprüngliche Banane essen, dann enthielte diese so viele Samen und Kerne, dass ich ziemlich sicher davon ausgehe, die Mehrheit von Ihnen würde das Stück Obst nicht als "essbar" bezeichnen wollen.

Beispiel Salat

Ein anderes Beispiel ist Salat. Salat klingt nach einem wirklich guten Beispiel für Paleo-Essen. Es stimmt aber nicht. Salat ist alles mögliche, nur kein Paleo-Lebensmittel. Wir haben die Inhaltsstoffe von Salat radikal unseren Bedürfnissen angepasst. Der Urahn des heutigen Salates ist der wilde Lattich. Schon einmal probiert?

Er schmeckt bitter und seine Blätter sind recht fest. Also haben wir ihn züchterisch verändert, so dass die Blätter weicher sind und grösser. Wir haben den magenreizenden Latexanteil herausgezüchtet und den bitteren Geschmack gleich dazu. Und dann haben wir auch noch dafür gesorgt, dass Stängel und Blattstämme verschwinden – so wurde dieser Salat für uns zarter und wohlschmeckender.

Beispiel Olivenöl

Manchmal wird auch das Olivenöl als Lebensmittel genannt, das sich für die Paleoernährung sehr gut eignen würde. Denn es ist ein Fruchtöl und kein Samenöl. Man gewinnt es aus dem Fruchtfleisch der Olive, also nicht aus einem Kern, so dass es, so glauben manche Paleo-Anhänger, sicher auch in der Steinzeit möglich gewesen sein müsste, aus der Olive Öl herzustellen.

Doch weiss man ziemlich sicher, dass der steinzeitliche Mensch unter keinen Umständen irgendwelche Vorrichtungen gebaut hat, mit denen sich das Öl aus der Olive hätte pressen lassen können. Auch Olivenöl ist somit ein Lebensmittel, das seinen Ursprung in der bäuerlich organisierten Gesellschaft hat.

Beispiel Blaubeeren und Avocados

Ich habe im Internet auf einer der zahlreichen Webseiten zur Paleoernährung den folgenden Vorschlag für ein Paleo-Frühstück gefunden: Heidelbeeren, Avocados und Eier.

Höchstwahrscheinlich war es aber keinem Steinzeitmenschen möglich, an diese drei Lebensmittel gleichzeitig zu gelangen. Denn dort, wo Avocados wachsen, gibt es im Allgemeinen keine Heidelbeeren und umgekehrt – von der Grösse der einzelnen Lebensmittel ganz zu schweigen.

Kultur-Blaubeeren zum Beispiel sind mindestens doppelt so gross wie wilde Blaubeeren. Und eine wilde Avocado hat vielleicht ein paar Millimeter Fruchtfleisch aufzubieten. Das Ei wiederum ist ein ganz eigenes Thema:

Beispiel Hühnerei

Hühner sind ziemlich produktive Eier-Produzenten. Sie legen fast jeden Tag ein Ei. Eier sind somit ein planbares Produkt, sie sind gross, und sie sind zahlreich vorhanden – zumindest im heutigen Supermarkt. In der Steinzeit aber war das etwas anders.

Sollten Sie Ihr nächstes Paleo-Frühstück mit Eiern zubereiten wollen, dann versuchen Sie einmal, draussen in der "Wildnis" Eier zu sammeln. Wenn Sie Pech haben, ist gerade Herbst, Winter oder heisser Sommer – und Sie finden kein einziges. Denn Vögel brüten meist nur im Frühjahr – und legen zu diesem Zweck einige wenige Eier (3 – 10 je nach Vogelart) und keinesfalls jahrelang täglich eins oder gar zwei. So hielt es auch das Wildhuhn, bevor es in die Zuchtfänge des Menschen geriet.

Und selbst im Frühjahr dürfte es nicht einfach sein, Vogelnester aufzuspüren. Denn Vögel möchten nicht, dass jemand ihre Kinder isst und verstecken ihre Nester daher sehr gut. Falls Sie fündig werden, dann handelt es sich vermutlich um befruchtete Mini-Eier, die zudem bereits angebrütet sind.

Beispiel Brokkoli

So etwas wie Brokkoli gab es in der Steinzeit nicht einmal ansatzweise. Natürlich auch keinen Blumenkohl, Rosenkohl, geschweige denn Kohlrabi. Es gab zwar wilden Kohl, doch wenn Sie "wilder Kohl" googeln und sich Bilder dazu betrachten, werden Sie feststellen, dass diese Pflanze mit unseren Gemüsekohlarten kaum Ähnlichkeit hat – und doch ist sie die Urform, aus der all unsere heutigen Kohlarten gezüchtet wurden.

Wilder Kohl schmeckt äusserst herb, und Sie müssten eine Menge davon sammeln, um 400 Gramm beisammen zu haben – so viel wie ein durchschnittlicher Brokkolikopf im Supermarkt wiegt.

Beispiel Karotte

Ähnlich verhält es sich mit der wilden Möhre. Ihre Wurzel ist winzig und dünn. Auch sie schmeckt nicht annähernd so süss und mild wie unsere heutigen Karotte. Im Gegenteil: Sie schmeckt bitter und eigentlich gar nicht lecker. Also haben wir auch hier die bitteren und herben Substanzen heraus gezüchtet. Und wir haben die Karotte grösser und zuckerreicher gemacht.

Wollen wir uns jetzt einmal die WIRKLICHE Steinzeiternährung ansehen.

Die wirkliche Steinzeiternährung

Zuerst sei darauf hingewiesen, und man kann es nicht oft genug wiederholen, dass es nicht DIE EINE Steinzeiternährung gibt, sondern viele verschiedene. Die Menschen haben das gegessen, was sie in der jeweiligen Region, die sie nach und nach besiedelt haben, auch tatsächlich vorgefunden haben. Lokaler Konsum ist aber bekanntlich sehr variabel.

Eine dieser vielen steinzeitlichen Ernährungsweisen schauen wir uns jetzt genauer an: Wir gehen 7000 Jahre zurück, an einen Ort namens Oaxaca im heutigen Mexiko. Das, was seinerzeit dort gegessen wurde, hat mit den Lebensmitteln, die heute als Paleoernährung bezeichnet werden, nichts zu tun.

Man ass eine Menge lokal verfügbares Obst, viele Hülsenfrüchte, Agaven, verschiedene Nüsse und Bohnen, einige Sorten Kürbis und Wildkaninchen. Im Laufe des Jahres aber, so gegen April, gab es in dieser Gegend wenig Essbares vorzufinden. Deshalb zogen die Menschen in andere – fruchtbarere – Regionen weiter, wo es womöglich wieder ganz andere Lebensmittel gab.

Die Zusammensetzung der tatsächlichen Paleoernährung hing also von der Region, der Klimazone und der Jahreszeit ab.

Menschen in arktischen Gebieten haben grundsätzlich andere Dinge konsumiert als Menschen in den Tropen. Menschen, die in Gegenden lebten, wo wenige Pflanzen wuchsen, neigten dazu, mehr Fleisch zu essen. Und Menschen in grüneren Landstrichen neigten dazu, sich eher vegetarisch zu ernähren.

Pflanzen wachsen zu unterschiedlichen Zeiten, Tierherden wandern von Punkt A nach Punkt B, und selbst Fische haben spezielle Zeiten, in denen man sie entweder im Fluss, dem See, oder im Meer antrifft oder eben nicht. Es gab also auch nie jedes Lebensmittel das ganze Jahr über, was heute jedoch gang und gäbe ist.

Dementsprechend hatte sich der steinzeitliche Verbraucher an das Angebot anzupassen oder eben selbst die Füsse in die Hand zu nehmen und sich neue Ressourcen zu erschliessen. Unsere Vorfahren haben somit oft sehr weite Strecken zurückgelegt. Gleichzeitig waren die Nahrungsrationen damals in der Regel sehr klein.

Die damalige pflanzliche Nahrung steckte voller sekundärer Pflanzenstoffe, die äusserst gesund sind und die heute aufgrund züchterischer Massnahmen im Kulturgemüse leider viel seltener vorkommen. Die Pflanzenkost war zudem oft hart, holzig und faserig, also sehr ballaststoffreich – was wir heute so gar nicht mögen. Alles muss zart, schmelzend, faserfrei und vor allem schnell essbar sein.

Wurde Fleisch gegessen, dann nicht nur das Muskelfleisch, sondern auch die Innereien und das Knochenmark – Dinge, die man heute kaum noch isst. Es gab ausserdem ausschliesslich Wildfleisch, denn niemand sperrte Tiere ein und gab ihnen artfremdes Futter aus Gensoja.

Ist die Steinzeiternährung heute möglich?

Für uns heutzutage ist es nahezu unmöglich, sich derartig zu ernähren. Sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten können sich nicht ernähren wie Jäger und Sammler. Dafür sind wir einfach zu viele.

Können wir aus der tatsächlichen steinzeitlichen Ernährungsweise nun aber wenigstens Lehren ziehen, die für unser heutiges Leben nützlich sind? Die Antwort ist ganz klar: Ja, das können wird. Ich möchte mich auf drei wichtige Lektionen beschränken.

1. Es gibt nicht die EINE richtige Ernährungsweise

Es gibt keine allgemeingültige richtige Ernährungsweise. Diversität ist der Schlüssel. Abhängig davon, wo Sie leben, können Sie die unterschiedlichsten Dinge essen. Wichtig ist jedoch, sich abwechslungsreich zu ernähren. Die Ernährung, die die westliche Gesellschaft heute für typisch hält, ist leider mehr als bloss ein Schritt geradewegs in die entgegengesetzte Richtung.

2. Wir sollten frisch, regional und saisonal essen

Wir haben uns evolutionär so entwickelt, frische Lebensmittel immer nur dann zu essen, wenn sie auch draussen in der Natur wachsen und reifen. Denn auch dann haben sie ihren höchsten nährstofflichen Wert, den sie erreichen können.

Heute gibt es alles jederzeit. Und wenn nicht, so essen wir Gelagertes und künstlich Konserviertes. Das ist natürlich auch wichtig, um bei hohen landwirtschaftlichen Erträgen die Ernte nicht verderben zu lassen und alle Menschen satt zu kriegen.

Konservierungsstoffe aber funktionieren nur, weil sie das bakterielle Wachstum in den Lebensmitteln verhindern. Nur vergessen wir dabei, dass auch unser Magen-Darm-Trakt voller Bakterien steckt.

Hierbei handelt es sich um unsere Darmflora, also zumeist um gute Bakterien, die viele nützliche Dinge erledigen. Sie helfen bei der Verdauung, sie steuern das Immunsystem, sie dienen der Funktion unserer Schleimhäute etc.

Wenn wir nun aber regelmässig Lebensmittel essen, die voller Konservierungsmittel stecken, dann trägt das natürlich auch zur Schädigung unserer Darmflora und somit unserer Gesundheit bei.

3. Wir sollten vollwertig essen

Die Evolution sorgte dafür, dass wir Lebensmittel stets in ihrer vollwertigen Form assen – bis wir damit begannen, Bitterstoffe aus Salaten wegzuzüchten, Getreide von seinen Randschichten zu befreien, Zucker aus Rüben und Zuckerrohr zu isolieren, Saft ohne Fruchtfleisch zu trinken sowie Obst und Gemüse zu schälen.

Also leiden wir heute unter ganz verschiedenen Mängeln: Ballaststoffmangel, Mineralstoffmangel, Vitaminmangel, Antioxidantienmangel, Bitterstoffmangel und gleichzeitig infolge des hohen Zuckerkonsums an einem Zuckerüberschuss.

Allein der Ballaststoffmangel hat schwerwiegende Folgen: Obwohl Ballaststoffe unverdaulich sind, können wir nicht auf sie verzichten:

Sie regulieren die Geschwindigkeit der Lebensmittel auf ihrem Weg durch den Verdauungstrakt. Sie verändern den Stoffwechsel, verlangsamen die Zuckerresorption, passen den Blutzuckerspiegel an, stellen Nahrung für die nützlichen Bakterien der Darmflora dar und verhindern auf diese Weise viele der heutigen üblichen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes mellitus und Adipositas.

Während nun aber in der Steinzeit der einzelne seine Ernährung selbst organisierte, übernimmt dies heute die Lebensmittelindustrie – leider zu unserem gesundheitlichen Nachteil, nicht immer, aber oft. Wir selbst haben – je nachdem, wo wir einkaufen – den Einfluss und die Kontrolle über unser Essen verloren. Wir essen das, was es eben zu kaufen gibt.

Wie sehr alles aus dem Gleichgewicht geraten ist, kann man wunderbar daran erkennen, wie viel mehr Kalorien wir uns mit immer geringeren Lebensmittelrationen einverleiben können. Diese Tatsache aber bringt unsere Fähigkeit, erkennen zu können, wann wir satt sind, zum Erliegen.

Wie viel Zuckerrohr müssten Sie in der Steinzeit essen?

Zum Abschluss habe ich eine Frage an Sie. Sie lautet:

Stellen Sie sich vor, Sie haben eine handelsübliche Flasche Limonade von 1 Liter. Nun stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie wären ein Steinzeitmensch und würden dieselbe Menge an Zucker zu sich nehmen wollen, wie jene, die sich in der Limo befindet. Wie viel Zuckerrohr müssten Sie wohl suchen, ernten und essen – gerne in Metern geschätzt – um auf die Zuckermenge in Ihrer Limonadenflasche zu gelangen?

(Ob Sie in der Steinzeit überhaupt an Zuckerrohr gelangt wären und ob das damalige Zuckerrohr bereits so dick und zuckerreich gewesen wäre wie das heutige, ist natürlich eine andere Geschichte…).

Sie müssten über drei Meter Zuckerrohr verspeisen. Das ist ziemlich viel Zuckerrohr, meine Damen und Herren.

Rein physisch besteht keinerlei Chance, dass ein Mensch in der Steinzeit in wenigen Minuten auch nur annähernd so viel Zuckerrohr hätte zu sich nehmen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Heute können Sie drei Meter Zuckerrohr in 20 Minuten in sich hineinschütten.

Die Anthropologie und die Evolutionsmedizin können uns also eine Menge über uns selbst beibringen. Mittels neuster Techniken können wir uns neue Perspektiven auf die Vergangenheit erschliessen. Und wir können auf diese Weise von unseren Vorfahren lernen, welche Lebensmittel für uns gut sind und wie wir sie essen müssen, um gesund zu bleiben.

Allerdings müssen wir davon Abschied nehmen, uns genauso ernähren zu können, wie dies in der Steinzeit der Fall war, da es die entsprechenden Lebensmittel heute nicht mehr gibt. Eine Paleoernährung gibt es also nicht.

Die tatsächliche Steinzeiternährung bestand in den allermeisten Regionen der Erde ausserdem nicht – wie heute oft behauptet wird – aus Unmengen Fleisch. Die tatsächliche Steinzeiternährung umfasste überdies – was heute gemeinhin bestritten wird – auch Getreide und Hülsenfrüchte. Ich danke Ihnen."

Anm. d. ZDG-Redaktion: Falls Sie mit Aussagen aus Dr. Warinners Vortrag nicht übereinstimmen, Fragen dazu haben oder darüber diskutieren möchten, wenden Sie sich am besten direkt an Dr. Christina Warinner.

Update 31.12.2022

Wir haben den ursprünglichen Artikel mit dem Vortrag von Dr. Christina Warinner ergänzt.

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Dieser Artikel wurde auf Grundlage (zur Zeit der Veröffentlichung) aktueller Studien verfasst und von MedizinerInnen geprüft, darf aber nicht zur Selbstdiagnose oder Selbstbehandlung genutzt werden, ersetzt also nicht den Besuch bei Ihrem Arzt. Besprechen Sie daher jede Massnahme (ob aus diesem oder einem anderen unserer Artikel) immer zuerst mit Ihrem Arzt.