Nur durch Fleisch soll sich das menschliche Gehirn entwickelt haben
Nur weil unsere Vorfahren irgendwann begannen, mehr Fleisch zu essen und dieses mit den neu erfundenen Werkzeugen zerkleinern konnten, hätte sich ihr Gehirn entwickeln können, heißt es häufig. Und nicht nur das. Aufgrund der geringeren Kauarbeit seien auch ihre Zähne kleiner und ihre Gesichtszüge flacher (menschlicher) geworden. Auch für die Entwicklung von Sprache sei erst so die Voraussetzung geschaffen worden.
Mit rein pflanzlicher Nahrung wäre das nicht möglich gewesen, wird gesagt, denn die Kauarbeit dafür hätte viel zu viel Kraft und Kalorien verbraucht. Zerkleinertes Fleisch hingegen müsse nur wenig gekaut werden und auch die Verdauung verlaufe effizienter – liefere also viel Energie, ohne dass bei der Verdauung gleichzeitig wieder viel Energie verbraucht würde. Kurzum: Dank Fleisch sind wir da, wo wir heute sind, so die Hypothese, die von vielen Menschen nur allzugern geglaubt wird.
Wären wir mit pflanzlicher Kost Affen geblieben?
Würden wir also immer noch Blätter kauend und mit kleinem Gehirn ausgestattet in den Bäumen sitzen, wenn sich unsere Vorfahren seinerzeit für die vegane Lebensweise entschieden hätten?
Wahrscheinlich nicht.
Abgesehen davon, dass wir uns in diesem Falle heute keine Gedanken um Atommüll, Impfpflicht und Klimawandel machen müssten, trifft es höchstwahrscheinlich nicht einmal zu.
Im Januar 2022 erschien im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences eine Studie, in der die Bedeutung des Fleischverzehrs für die menschliche Evolution in Frage gestellt wird (1).
Hat uns Fleisch zum Menschen gemacht?
Zwar sei es zweifelsohne so, dass man größere Gehirne erstmals beim Homo erectus vor 2 Millionen Jahren beobachten konnte. Erklärt wird dies damit, dass der Homo erectus – wie oben erklärt – seine Ernährung umgestellt habe, sprich weniger Gemüse und dafür mehr Fleisch verspeiste und seine Nahrung zudem zerkleinerte.
Dass jedoch – so die Studienautoren rund um Paläoanthropologe Dr. W. Andrew Barr – sei eher das verzerrte Ergebnis des einseitigen und verstärkten Fokus auf dieser Epoche. Man suche nach Hinweisen für den zunehmenden Fleischverzehr nach Erscheinen des Homo erectus, finde sie und sehe darin den Beleg für die Hypothese „Fleisch hat uns zum Menschen gemacht“.
Dr. Barr erklärt: „Wenn Sie jedoch (so wie wir es taten) die Daten von zahlreichen archäologischen Fundorten aus ganz Ostafrika mit quantitativen Methoden auswerten, dann beginnt sich die Hypothese aufzulösen.“
Fleischverzehr hatte sich seinerzeit nicht erhöht
Barr und seine Kollegen verwendeten für ihre Studie die Daten aus den neun wichtigsten Forschungsgebieten Ostafrikas, darunter 59 Standorte, die Daten aus einer Zeit von vor 2,6 bis 1,2 Millionen Jahren liefern. Untersucht wurden ganz unterschiedliche Funde, z. B. Tierknochen, die eindeutige Spuren von Schneidewerkzeugen aufwiesen, wobei auch wichtig war, wie viele solcher Knochen sich an den jeweiligen Stellen finden ließen.
Es zeigte sich, dass es im genannten Zeitraum nicht übermäßig viele Funde gab, die eine Erhöhung des Fleischverzehrs hätten belegen können. Die höhere absolute Zahl an Funden war lediglich darauf zurückzuführen, dass in letzter Zeit mehr Proben entnommen wurden.
Was ließ dann unser Gehirn wachsen?
Wenn nun also kein verstärkter Fleischverzehr in der damaligen Zeit stattfand, müsse man nach den tatsächlichen Gründen für die anatomischen Veränderungen fahnden, die aus unseren Vorfahren den modernen Menschen werden ließen.
Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass unsere Vorfahren lernten, das Feuer zu nutzen und ihre Nahrung zu kochen.
Auf diese Weise konnten sie ohne aufwändige Kauarbeit mehr pflanzliche Kost zu sich nehmen und gleichzeitig die Bioverfügbarkeit der enthaltenen Nährstoffe erhöhen.
Wieder ein Argument weniger für Fleischverzehr
„Ich denke, dass unsere Studie und ihre Ergebnisse nicht nur für die Paläoanthropologie-Community von Interesse sind, sondern für alle Menschen, auch für jene, die ihren Fleischverzehr mit den alten Geschichten vom menschlichen Gehirn rechtfertigen, das sich nur aufgrund von Fleischverzehr habe entwickeln können“, sagte Barr. „Unsere Studie belegt, dass es nicht der Verzehr großer Mengen Fleisch war, der evolutionäre Veränderungen bei unseren frühen Vorfahren vorangetrieben hat.“
Neben Barr gehörten zum Forschungsteam Briana Pobiner, Forscherin im Human Origins Program am Smithsonian National Museum of Natural History und Co-Autorin der Studie, John Rowan, Assistenzprofessor für Anthropologie an der University of Albany, Andrew Du, Assistenzprofessor für Anthropologie und Geographie an der Colorado State University sowie J. Tyler Faith, außerordentlicher Professor für Anthropologie an der University of Utah.