Über 1700 Menschen sterben jährlich aufgrund von Medikationsfehlern
In England werden jedes Jahr schätzungsweise mehr als 237 Millionen Medikationsfehler gemacht – so eine Auswertung von Juni 2020 die im Journal BMJ Quality & Safetyveröffentlicht wurde. Diese traurige Wahrheit kostet dort jährlich über 1.700 Menschen das Leben. Dazu kommen umgerechnet 108 Millionen Euro pro Jahr zulasten des staatlichen Gesundheitssystems, weil die Medikationsfehler zu längeren Krankenhausaufenthalten und mehr Klinikeinweisungen führen ( 1 ) ( 2 ).
Mehr als die Hälfte der Fehler passieren bei der Verabreichung
Die beteiligten Forscher schätzen, dass Medikationsfehler zu rund 181.600 Betttagen im Krankenhaus führen. Ein Fünftel der Fehler passiert bereits bei der Verschreibung von Medikamenten. Mehr als die Hälfte der Fehler treten anschliessend bei der Verabreichung ein (1, 2).
Die meisten Medikationsfehler richten dabei wenig bis gar keinen Schaden an (72 %), wogegen 2 % der Fehler schwerwiegende Folgen (im schlimmsten Fall den Tod) haben. Die übrigen 26 % leiden an den jeweiligen Nebenwirkungen, die bei richtiger Verordnung so gar nicht erst aufgetreten wären. Wenn man bedenkt, dass sich viele Menschen blind auf ihren Arzt verlassen, sind diese Fakten ernüchternd.
Die genannten Zahlen beziehen sich ausschliesslich auf Medikationsfehler durch Gesundheits- und Pflegepersonal. Fehler durch die Patienten selbst wurden dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
Medikationsfehler in Deutschland
In Deutschland sieht die Situation leider nicht viel anders aus. Die jährlichen Kosten durch Medikationsfehler werden sogar auf über eine Milliarde Euro geschätzt ( 3 ). Laut einer Stellungnahme der deutschen Bundesregierung führen Medikationsfehler zu rund 250.000 Krankenhauseinweisungen jährlich, was in etwa 5 % aller Fälle entspricht ( 4 ).
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat über zwei Jahre hinweg Medikationsfehler erfasst und bewertet. Die meisten Medikationsfehler sind bei der Einnahme passiert (30 %), gefolgt von der Verschreibung (28 %) und der Abgabe (24 %) von Medikamenten. Am häufigsten traten die Fehler im Krankenhaus (45 %), in Arztpraxen (23 %) und bei Patienten zuhause (21 %) auf ( 5 ).
Bei den folgenden Substanzen sind die meisten Medikationsfehler passiert (5):
- Bluttransfusionen roter Blutkörperchen (Erythrozyten)
- Metamizol (Schmerzmittel)
- Phenprocoumon (Blutgerinnungshemmer)
- Apixaban (Blutgerinnungshemmer)
- Diptherieimpfstoff
- Ibuprofen (Schmerzmittel)
- Methotrexat (Krebsmedikament)
- Tetanusimpfstoff
- Impfstoff gegen Haemophilus influenzae Typ B; Bakterien, die zu verschiedenen schwerwiegenden Erkrankungen, wie z. B. Hirnhautentzündung führen können)
- Haloperidol (Psychopharmakon)
Sicher kommt Ihnen das ein oder andere Mittel bekannt vor. Es handelt sich dabei unter anderem um Impfstoffe, Schmerzmittel und Blutgerinnungshemmer (im Volksmund « Blutverdünner»). Die Medikationsfehler reichten von Interaktionen mit anderen Arzneimitteln, über Verwechslungen bis hin zu Überdosierungen.
Bei den Impfstoffen hatte ein Patient zum Beispiel eine bekannte Überempfindlichkeit gegen einen der Impfstoffe, was zu schweren Nebenwirkungen geführt hat. Bei anderen Fällen kam es zu Über- oder Unterdosierungen, beispielsweise durch die falsche Zubereitung des Impfstoffs oder durch eine undichte Spritze.
Medikationsfehler in der Schweiz
Laut der Stiftung Patientensicherheit sind in der Schweiz jährlich 20.000 Krankenhausaufenthalte auf Medikationsfehler zurückzuführen. Davon betroffen sind vor allem ältere Patienten, da sie häufig mehrere Medikamente einnehmen, wodurch das Fehlerrisiko grösser ist. Die jährlichen Kosten durch Medikationsfehler allein bei Kindern und Jugendlichen werden auf 70 Millionen Franken geschätzt ( 6 ) ( 7 ).
Eine Studie in einem Schweizer Krankenhaus zeigte, dass der häufigste Fehler die falsche Dosierung war. Das Krankenhauspersonal hatte die Angaben der ärztlichen Verordnung nicht berücksichtigt ( 8 ).
Unangemessene Medikation bei Demenzpatienten
Forscher fanden 2017 heraus, dass Demenzpatienten in Wohn- und Pflegeheimen häufig unangemessene Medikamente verschrieben werden. Unangemessen, weil das Risiko von Nebenwirkungen einiger Medikamente bei älteren Menschen den Nutzen überwiegt und es dafür alternative Behandlungsformen gäbe ( 9 ).
Die Forscher untersuchten die Daten der RightTimePlaceCare-Studie, die Demenzpatienten in acht europäischen Ländern umfasst. Sie kamen zum Schluss, dass in Deutschland 61,6 % der Studienteilnehmer mindestens ein unangemessenes Medikament verschrieben wurde, 26,3 % erhielten sogar zwei oder mehr Medikamente verschrieben, die sie gar nicht bräuchten.
In den Niederlanden, Frankreich, Spanien und England waren die Zahlen der Betroffenen noch höher. In Schweden und Estland sah die Situation dagegen etwas besser aus.
Gerade in der Gruppe derjenigen, die zwei oder mehr überflüssige Medikamente erhielten, führten die Medikationsfehler zu einem erhöhten Sturzrisiko mit entsprechenden Folgeverletzungen sowie einem erhöhten Risiko, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden.
Zu den überflüssigerweise oder falsch verordneten Medikamenten gehörten in dieser Studie insbesondere Psychopharmaka (dämpfen das Zentralnervensystem; werden bei Psychosen, Angststörungen, Schlafstörungen, innerer Unruhe etc. verordnet) und Protonenpumpenhemmer ( Säureblocker; unterdrücken die Bildung von Magensäure bei Reflux und Sodbrennen ).
Mögliche Ursachen von Medikationsfehlern
In den zu Beginn genannten Studien werden viele Gründe für Medikationsfehler aufgeführt. Wechselwirkungen gehören dabei zu den wichtigsten Ursachen. Da immer mehr Medikamente auf den Markt kommen, entstehen bei der Einnahme mehrerer Medikamente zunehmend komplexere Wechselwirkungen. Je mehr Medikamente ein Patient einnimmt, desto grösser wird das Fehlerrisiko. Besonders bei Klinikeintritten, wo oftmals neue Medikamente verordnet werden, können Fehler entstehen.
Aber auch die handschriftliche Verordnung birgt Fehlerpotenzial. Durch eine unleserliche Schrift können leicht Missverständnisse entstehen: Eine Kundin gab in einer Apotheke eine handschriftliche Verordnung für Norflex ab. Dies ist ein Muskelrelaxans. Der Apotheker verwechselte dieses Medikament mit Norflox. Als er Norflox in die Apothekensoftware eingab, wurden ihm mehrere Medikamente mit dem Wirkstoff Norfloxacin, einem Antibiotikum, angezeigt. Die Kundin bemerkte das Missverständnis zum Glück. Dies ist ein realer Fall, der beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukteeingegangen ist ( 10 ).
Weitere Ursachen sind Verwechslungen aufgrund ähnlich aussehender Verpackungen, handschriftlich geführte Patientenakten oder auch Missverständnisse zwischen Arzt und Patient, die dann zur falschen Einnahme durch den Patienten führen.
Frauen leiden häufig stärker an Nebenwirkungen
Besonders häufig überdosiert werden Medikamente bei Frauen, so eine Studie der University of California. Der Grund dafür ist, dass Medikamententests meistens bei Männern durchgeführt werden. Die Dosierungen sind entsprechend für ein höheres Körpergewicht ausgelegt ( 11 ).
Dies hat wohl damit zu tun, dass Frauen in der Biomedizin immer noch unterrepräsentiert sind, vermuten die Forscher. Sie identifizierten 86 Medikamente, bei denen es einen klaren Geschlechterunterschied in der Dosierung gibt, der aber bis heute nicht angepasst wurde. Darunter sind Antidepressiva, Aspirin und Morphin. Leidtragende sind die weiblichen Patientinnen, die folglich auch an stärkeren Nebenwirkungen leiden.
So können Sie Medikationsfehlern vorbeugen
In Deutschland haben Personen, ab drei verordneten Arzneimitteln Anspruch auf einen Medikamentenplan. Darauf sollte Ihr Arzt alle wichtigen Informationen zu Ihren Medikamenten eintragen: Namen, Wirkstoffe, Dosierung, Zeitpunkt der Einnahme, Grund für die Einnahme und so weiter.
Lassen Sie sich von Ihrem Arzt unbedingt ganz genau erklären, weshalb Sie welches Medikament einnehmen und wie es genau wirkt. Auf diese Weise können Sie auch viel besser beobachten, welches Ihrer Symptome sich unter der Medikamentenwirkung verbessert und welche neuen Symptome auftreten.
Auch wenn Sie keinen Anspruch auf einen Medikamentenplan haben, können Sie sich selbst einen erstellen. Vorlagen finden Sie im Internet. Im Medikamentenplan tragen Sie alles ein, was Sie einnehmen, also auch Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente, die ohne Rezept erhältlich sind.
Gerade wenn Sie Nahrungsergänzungsmittel oder frei verkäufliche Mittel zusätzlich zu Ihren Medikamenten nehmen, sollten Sie deren Einnahme mit Ihrem Arzt oder Heilpraktiker besprechen. Denn auch diese Mittel können mit Ihren Medikamenten in Wechselwirkung treten, deren Wirkung also z. B. verstärken oder abschwächen. Ebenso sind Wechselwirkungen mit Nahrungsmitteln möglich, wie Sie im Text Grapefruit und Medikamente nachlesen können.
Ihren Medikamentenplan tragen Sie am besten im Geldbeutel für Notfälle bei sich. Sollten Sie unerwartet ins Krankenhaus müssen, haben Sie gleich alle wichtigen Informationen zur Hand.