Therapien gefährlicher als die Krankheit
Im Laufe der Geschichte erforschte man ständig neue Heilmethoden, die dann auch erst einmal zum Einsatz kamen. Die meisten verwarf man wieder, da sie als nutzlos entlarvt wurden oder mit starken Nebenwirkungen einhergingen. Nicht selten entpuppten sich Therapien als gefährlicher als die zu behandelnde Erkrankung.
Ein Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit durch klinische Studien ist bei medizinischen Verfahren – als Reaktion auf den Contergan-Skandal – erst seit dem 20. Jahrhundert erforderlich. Wird eine Therapie als wirksam eingestuft, bedeutet dies aber noch lange nicht, dass sie es auch ist. Denn es geht nur um die Wahrscheinlichkeit, dass damit therapeutische Ergebnisse erzielt werden können.
Häufig zeigt sich erst im Nachhinein: Nützt die Therapie oder schadet sie?
Immer wieder stellt sich bei weit verbreiteten medizinischen Verfahren, die von Ärzten im grossen Stil angewandt werden, erst im Nachhinein heraus, dass ihre Wirksamkeit zu wünschen übrig lässt oder dass sie mehr schaden als nutzen. Man spricht in dem Fall von einem Medical Reversal, also einer medizinischen Neuausrichtung (5). Die Liste der Medical Reversals ist lang, sie reicht von der autologen Stammzellentransplantation bei Brustkrebs bis hin zur Hormonersatztherapie. (4)
US-Forscher (2) haben im Jahr 2019 rund 3.000 Studien untersucht, die in einem Zeitraum von etwa 15 Jahren in den Fachzeitschriften Journal of the American Medical Association, The Lancet und The New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden. 92 Prozent dieser Studien wurden in Industrieländern durchgeführt.
Untersucht wurden ausschliesslich randomisierte kontrollierte Studien, da diese am aussagekräftigsten eingestuft werden. Nichtsdestotrotz kamen die Wissenschaftler zum Schluss, dass es sich in 396 Fällen um Medical Reversals und somit um Therapien handelt, die eigentlich aus dem Verkehr gezogen werden sollten.
Welche Behandlungen werden am heftigsten kritisiert?
Besonders bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden die häufigsten nutzlosen Mittel und Verfahren eingesetzt, so ergaben sage und schreibe 80 Studien. 48 weitere Studien zeigten, dass auch in der Präventivmedizin (Vorsorgeuntersuchungen) reichlich nutzlose Verfahren angewandt werden.
Medikamente zeigten sich in 129 Studien als nutzlos oder schädlicher als die zu behandelnde Krankheit – und 81 Studien ergaben, dass bestimmte schulmedizinische Eingriffe besser vermieden werden sollten.
Wir haben drei Beispiele aus genannter Analyse ausgesucht:
Antidepressiva für Demenzkranke
Demenzkranke leiden häufig an Depressionen. Oft bekommen sie sofort Antidepressiva wie Sertralin oder Mirtazapin verschrieben. Da diese Medikamente nicht besser wirken als ein Placebo und mit starken Nebenwirkungen einhergehen können, sollte bei Demenzkranken darauf verzichtet werden.
Kompressionsstrümpfe nach Herzinfarkt
Oft werden Patienten, die einen Herzanfall erlitten haben, Kompressionsstrümpfe empfohlen, um einer tiefen Venenthrombose vorzubeugen. Diese Therapie bringt keine Vorteile und führt häufig zu Nebenwirkungen wie z. B. Geschwüren und Hautnekrosen.
Mammografie für Frauen unter 50
Frauen zwischen 40 und 49 Jahren wird nahegelegt, alle 1 bis 2 Jahre eine Mammografie durchführen zu lassen. Mittlerweile steht jedoch fest, dass die Sterblichkeit in puncto Brustkrebs bei jenen Frauen, die der Empfehlung nachgekommen sind, keineswegs niedriger ausfiel und das Leid durch zahlreiche Überdiagnosen deutlich überwiegt.
Nutzlose Verfahren werden 10 Jahre und länger eingesetzt, bis ihre Nutzlosigkeit aufgedeckt wird
Uneffektive Therapien haben unterschiedlichste negative Auswirkungen. So haben Patienten von der entsprechenden Behandlungsmethode keinen Nutzen oder erleiden dadurch sogar einen Schaden. Eine andere Therapie könnte hingegen hilfreich sein, die aber nicht eingesetzt wird. Zusätzlich entstehen für den Patienten und/oder das Gesundheitssystem unnötige Kosten.
Dazu kommt, dass es nach der Aufdeckung mindestens zehn Jahre dauert, in denen weitere Patienten Schaden erleiden, da die zur Diskussion stehenden medizinischen Verfahren natürlich nicht unmittelbar aufgegeben werden. Das Ergebnis: Immer mehr Menschen verlieren das Vertrauen in die Ärzte und das Gesundheitssystem.
Informieren Sie sich vor der Einnahme von Medikamenten, vor medizinischen Eingriffen und auch vor Vorsorgeuntersuchungen!
Laut Studienleiter Vinay Prasad (1), Professor am OHSU Knight Cancer Institute, halten Ärzte viel zu lange an etablierten Therapien fest, auch wenn sich diese als uneffektiv erweisen. Neue Behandlungen sollten deshalb viel rigoroser getestet werden, bevor sie verbreitet werden.
Bleiben Sie daher skeptisch, wenn Ihnen Vorsorge- oder Therapieverfahren verordnet werden, informieren Sie sich selbst ausgiebig zu deren Vor- und Nachteilen, zu Nebenwirkungen und möglichen Alternativen, holen Sie vor grösseren Eingriffen eine Zweitmeinung ein und googeln Sie! – auch wenn dies gerade Ärzte gar nicht gerne haben! (3)