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  • Antidepressiva wirken nicht
8 min

Warum Antidepressiva oft nicht wirken

Antidepressiva können Nebenwirkungen haben. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass Antidepressiva häufig weder antidepressiv noch angstlösend wirken. Arzt und Autor Cornelius Kretzschmann erläutert nachfolgend die Hintergründe.

Fachärztliche Prüfung: Dr. med. Jochen Handel
Aktualisiert: 21 September 2023

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Antidepressiva ohne antidepressive Wirkung

Gut dokumentiert ist, dass Antidepressiva häufig mit schwerwiegenden Nebenwirkungen einhergehen können, etwa dem toxisch organischen Psychosyndrom, tonisch-klonischen epileptischen Krampfanfällen, medikamenteninduzierten Leberschäden, Harnverhalt, Herzrhythmusstörungen bis hin zu Herzversagen, Bluthochdruck, allergischen Reaktionen, Suizidalität, dem extrapyramidalen Syndrom (Störungen des Bewegungsablaufes), Störungen des Hormon-, Wasser- und Elektrolythaushalts, dem Serotoninsyndrom etc. ( 1 ) ( 2 ) ( 3 ) ( 4 ) ( 5 ).

Auch dass Antidepressiva im Vergleich zu Placebopräparaten nur einen geringen Wirkungsunterschied aufweisen, ist nicht neu. Insbesondere der breiten Öffentlichkeit ist hingegen nahezu unbekannt, dass Antidepressiva prinzipiell gar keine antidepressive oder anxiolytische (angstlösende) Wirkung besitzen ( 6 ).

Placebo wirkt ähnlich gut wie Antidepressiva

Der renommierte Psychologieprofessor Dr. Irving Kirsch von der Harvard Medical School veröffentlichte mit seinem Kollegen bereits 1998 eine Metaanalyse von 19 klinischen placebokontrollierten Doppelblindstudien zur Wirkung verschiedener Typen synthetischer Antidepressiva.

Das Forscherteam kam zu seinem eigenen Erstaunen zu dem Ergebnis, dass der Wirkungsunterschied zwischen den angeblich antidepressiv wirkenden Medikamenten und dem Placebo nur bei ca. 25 % liegt oder anders gesagt, der Placebo hatte ca. 75 % der antidepressiven Wirkung der tatsächlichen Arzneimittel erreicht ( 7 ).

Was nicht veröffentlichte Studien zeigen

Nicht veröffentlichte Zulassungsstudien zeigen: Der Unterschied zwischen Placebo und Antidepressiva ist noch geringer als gedacht, wie Sie im Folgenden sehen werden.

Neben den von den Pharmakonzernen bei der FDA (Food and Drug Administration) eingereichten öffentlich frei zugänglichen Zulassungsstudien gibt es für die sechs am häufigsten verschriebenen Antidepressiva (Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin, Venlaflaxin, Nefazondon, Citalopram) auch andere Studien, nämlich solche, die der Öffentlichkeit nicht frei zugänglich sind, die aber ebenfalls von den Konzernen eingereicht wurden und sogar 40 % des gesamten einstigen Studien-Pools ausmachten.

Durch den Freedom of Information Act gelangten Kirsch und Co. im Jahre 2002 an genau diese bislang noch nicht veröffentlichten Studien. Der Freedom of Information Act (FOIA) ist ein US-amerikanisches Gesetz zur Informationsfreiheit, wodurch jeder das Recht hat, Zugang zu Dokumenten von staatlichen Behörden zu verlangen.

Bei ca. einem Viertel der öffentlich frei zugänglichen eingereichten FDA-Studien konnten die Wissenschaftler keinerlei statistisch signifikante Unterschiede zwischen antidepressiver Medikation und Placebo feststellen. Bei den nicht frei zugänglichen FDA-Studien betrug die Anzahl derjenigen, in welchen kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen Medikament und Placebo nachgewiesen werden konnte, sogar 88 %.

Nach der gemeinsamen Analyse dieser beiden Datensätze, frei zugängliche und nicht frei zugängliche, kamen die Forscher somit nur noch auf einen statistisch signifikanten Wirkungsunterschied von 18 %, was einer Punktzahl von 1,8 Punkten auf der Hamilton Rating Scale for Depression (ein von 0 - 53 Punkten rangierendes diagnostisches Fragebogen-Instrumentarium zur Bestimmung der Schwere einer Depression) entspricht ( 8 ) ( 9 ).

FDA bestätigt mangelhafte Wirkung von Antidepressiva

Die Ergebnisse von Kirschs Team wurden in Folge mehrfach unabhängig reproduziert und bestätigt; unter anderem sogar von der FDA selbst, welche von ihren Analytikern im Jahre 2011 eine eigene Metaanalyse erstellen lassen hatte ( 10 ).

2018 wurde erneut eine weitere metaanalytische Ausarbeitung seitens der FDA veröffentlicht, welche ebenfalls zu exakt dem gleichen Ergebnis wie Kirschs Team gekommen war ( 11 ).

Film-Empfehlung: Eine ehrliche Aufklärung über Antidepressiva

Zulassung trotz fehlender Belege für eine Wirkung

Für die Zulassung eines Medikaments durch die FDA ist lediglich der Nachweis einer statistischen Signifikanz in zwei klinischen Studien vonnöten.

Jedoch lässt allein der Nachweis einer statistischen Signifikanz noch keine Aussage über die klinische Bedeutung eines Therapieverfahrens zu, sondern zeigt lediglich eine mathematische Korrelation auf, wobei das Signifikanzniveau, ab welchem eine Korrelation als signifikant gilt, stets willkürlich festgelegt werden kann.

Damit man die Bedeutsamkeit eines Behandlungseffekts besser einschätzen kann, bedient man sich deshalb des Parameters der klinischen Signifikanz. Um den Unterschied zwischen statistischer und klinischer Signifikanz zu veranschaulichen, soll folgendes Beispiel dienen:

Eine Million an einer Bronchitis leidende Patienten husten alle pro Tag 100 Mal. Nach der Gabe eines Medikaments reduziert sich das tägliche Husten von 100 auf 95 Mal.

Dies ist zwar statistisch signifikant, jedoch von viel zu geringem Ausmass, um in der Praxis von einer klinischen Relevanz für den einzelnen Patienten zu sein. Mit anderen Worten, der Patient hätte nichts von dem Medikament, da es für ihn kaum eine Erleichterung bedeuten würde, statt 100 nur noch 95 Mal zu husten.

Um klinisch signifikant zu sein, müsste ein Antidepressivum laut Clinical Global Impression – Improvement Scale (Skala zur Bestimmung des Verbesserungsgrades einer Erkrankung) eine Veränderung von mindestens 7 Punkten auf der Hamilton Rating Scale for Depression erreichen, um überhaupt erst eine geringfügig feststellbare Verbesserung der Symptomatik aufweisen zu können. Wie oben erklärt, erreichen Antidepressiva jedoch nur 1,8 Punkte.

Antidepressiva-Studien von der Pharmaindustrie finanziert

Kirsch und Kollegen wollten sodann wenn auch nicht der klinischen, so doch wenigstens der statistischen Signifikanz in den Zulassungsstudien auf die Schliche kommen. Zu diesem Zweck untersuchten die Forscher die Studien auf Faktoren, die zu einer Verzerrung der Resultate zugunsten der antidepressiven Arzneien geführt haben könnten.

Dabei fiel den Wissenschaftlern zunächst auf, dass alle bei der FDA eingereichten Zulassungsstudien von Pharmafirmen in Auftrag gegeben und finanziert worden waren – ein Umstand, der bei Nahrungsergänzungen (wenn deren Studien von den jeweiligen Herstellern in Auftrag gegeben wurden) stets äusserst negativ bewertet wird.

In einer Übersichtsarbeit von Kelly et al. zur Frage der Abhängigkeit zwischen Finanzierung und Ausgang von Zulassungsstudien für Psychopharmaka konnte folgendes ermittelt werden:

Das Endresultat einer Studie zur Zulassung eines Psychopharmakons fiel in 78 % der Fälle positiv zugunsten des zu testenden Arzneimittels aus, wenn die Studie vom herstellenden Pharmaunternehmen selbst in Auftrag gegeben und finanziert worden war.

Bei unabhängig finanzierten Studien hingegen war das Ergebnis nur in 48 % der Fälle positiv für das zu testende Medikament ausgefallen. Wurden die Studien gar von einem konkurrierenden Pharmaunternehmen in Auftrag gegeben, sind die Ergebnisse nur noch in 28 % der Studien positiv für das Testpräparat ( 12 ).

Es besteht also ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Auftraggeber bzw. dem Sponsor einer Studie und deren Ausgang.

Nur bestimmte Studienteilnehmer für Studien zugelassen

Ein weiterer Faktor, welcher die Ergebnisse zugunsten der Psychopharmaka beeinflussen könnte, waren die strikten Teilnehmer-Auswahlkriterien. So wurden beispielsweise alle Patienten, bei welchen ein Ansprechen auf die antidepressive Medikation als unwahrscheinlich galt, bereits im Vorfeld von der Studienteilnahme ausgeschlossen ( 13 ).

Patienten, welche in den ersten zwei Wochen positiv auf das Placebopräparat reagiert hatten, wurden ebenfalls aus den Studien aussortiert, was zu einer weiteren gravierenden Verzerrung der Studienergebnisse zugunsten der zu testenden Antidepressiva führte.

Wie Ergebnisse aussehen, wenn (fast) alle Patienten teilnehmen

Eine der mit 4041 teilnehmenden Patienten bis dato grössten durchgeführten klinischen Studien zur Frage der Wirksamkeit von Antidepressiva ist die STAR*D-Studie. Im Gegensatz zu anderen Studien waren die Ausschlusskriterien nur minimal. So konnten zum Beispiel auch chronisch depressive Patienten, suizidale (selbstmordgefährdete)Patienten sowie Patienten mit psychiatrischen und nicht psychiatrischen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) teilnehmen.

Auch wurden die Patienten nicht wie sonst üblich über Werbeanzeigen rekrutiert. Teilnehmer wurden stattdessen einfach Patienten, welche sich bereits in einer ambulanten oder stationären Behandlung befunden hatten.

Die Ergebnisse waren ernüchternd. Die antidepressive Medikation hatte im Durchschnitt lediglich eine Verbesserung gegenüber dem Ausgangszustand der Patienten von 6,6 Punkten auf der Hamilton Rating Scale for Depression erreicht, was unterhalb der vom Clinical Global Impression – Improvement Scale geforderten minimal Grenze von 7 Punkten liegt.

Fazit: die Schwelle zum Erreichen der klinischen Signifikanz ist auch in der STAR*D-Studie nicht erzielt worden.

In der STAR*D-Studie gab es zwar keinen Placebo-Kontrollarm, jedoch ist aus den bei der FDA eingereichten Zulassungsstudien der Pharmahersteller bekannt, dass die durch Placebopräparate erzielte Verbesserung im Durchschnitt 8,3 Punkte beträgt.

Wenn Doppelblindstudien gar nicht doppelblind sind

Unter placebokontrollierten Doppelblindstudien versteht man ein Studiendesign, bei welchem weder die an der Studie teilnehmenden Patienten noch die Studienärzte selbst wissen, welche Patientengruppe ein tatsächliches Medikament und welche lediglich ein Placebo (Scheinmedikament) erhält. Man will damit einen möglichst objektiven Studienablauf gewährleisten, mit dem Ziel, möglichst authentische Ergebnisse zu erhalten.

Jedoch konnte in einer Analyse von klinischen placebokontrollierten Doppelblindstudien gezeigt werden, dass neun von zehn Patienten und neun von zehn Studienärzten wissen, dass sie das Testmedikament und nicht das Placebo erhalten beziehungsweise verabreicht haben ( 14 ).

Die Ursache dafür scheinen die unerwünschten Arzneimittelwirkungen zu sein, die ein Scheinmedikament von seiner Zusammensetzung her nicht hervorrufen kann und welche den Patienten durch ihr Auftreten einen starken Anhaltspunkt dafür geben, dass sie kein Placebo, sondern ein echtes Medikament erhalten.

Der Placeboeffekt sorgt für eine antidepressive Wirkung

Dieser Umstand der Entblindung der Studienanordnung durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen erhöht nun wiederum die Zuversicht der Patienten gegenüber dem Präparat und verzerrt dadurch das Endresultat fundamental.

Das Medikament wirkt somit allein über seine unerwünschten Arzneimittelwirkungen wie ein stärkeres oder aktives Placebo unabhängig davon, ob es überhaupt irgendeinen medizinischen Effekt auf die zugrunde liegende Erkrankung hat.

Weiter erhärtet werden diese Befunde durch Studien, bei welchen die Ergebnisse dieselben blieben, wenn anstatt von Antidepressiva andere Medikamente, wie beispielsweise synthetische Schilddrüsenhormone oder Beruhigungsmittel verabreicht worden waren.

Allein die Tatsache, dass die an der Studie teilnehmenden Patienten glaubten, dass sie ein Antidepressivum erhalten hätten, obwohl dies nicht der Fall gewesen war, sorgte für die gleiche statistisch signifikante antidepressive Wirkung wie bei der Gabe eines sogenannten „echten“ Antidepressivums.

Dazu kommt, dass manche Antidepressiva auch zu einer Art Abhängigkeit führen können, wie wir in unserem Artikel Machen Antidepressiva abhängig? besprechen.

Hinweis der ZDG-Redaktion: Bei Depressionen gibt es sehr viele ganzheitliche Massnahmen, die im Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes Depressionen lindern oder gar ganz beheben können, so dass häufig gar keine Medikamente erforderlich sind (die laut obigen Ausführungen sowieso nur einen Placeboeffekt aufweisen, wenn überhaupt einen) und man so auch nicht deren Nebenwirkungen ausgesetzt ist.

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Wichtiger Hinweis

Dieser Artikel wurde auf Grundlage (zur Zeit der Veröffentlichung) aktueller Studien verfasst und von MedizinerInnen geprüft, darf aber nicht zur Selbstdiagnose oder Selbstbehandlung genutzt werden, ersetzt also nicht den Besuch bei Ihrem Arzt. Besprechen Sie daher jede Massnahme (ob aus diesem oder einem anderen unserer Artikel) immer zuerst mit Ihrem Arzt.