Tod durch unerwünschte Arzneimittelwirkung?
Schätzungen zufolge sterben allein in Deutschland jedes Jahr zwischen 16.000 und 58.000 Menschen (1) durch tödliche Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 verstarben auf deutschen Strassen gerade einmal 2562 Menschen (2).
Wie viele Fälle von unerwünschten Arzneimittelwirkungen insgesamt auftreten (also auch nicht-tödliche Nebenwirkungen), ist nicht bekannt. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Denn viele Menschen sagen es ihrem Arzt gar nicht, wenn sie Nebenwirkungen bemerken. Andere sagen es ihrem Arzt, nur meldet dieser die Nebenwirkungen oft nicht. Bei vielen Nebenwirkungen ist es ausserdem so, dass diese gar nicht erst mit Medikamenten in Verbindung gebracht werden und daher auch nicht in die Statistik einfliessen.
Meiste Nebenwirkungen durch Blutdruck- und Thrombose-Medikamente
Eine deutsche Forschergruppe versuchte 2018 in einer Beobachtungsstudie herauszufinden, wie viele Behandlungen in deutschen Notaufnahmen auf Verdachtsfälle von Nebenwirkungen durch Arzneimittel zurückgehen. Hierfür analysierten sie die Eintritte in die Notaufnahme von vier deutschen Krankenhäusern während 30 Tagen. Durchschnittlich gingen 6.5 Prozent der Behandlungen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurück (3).
Bei den Nebenwirkungen handelte es sich zum grössten Teil um Symptome, die das Nervensystem (z. B. Ohnmacht, Schwindel) oder den Verdauungstrakt betreffen (z. B. Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen).
Unter den Medikamenten, die am häufigsten für diese Nebenwirkungen verantwortlich gemacht wurden, waren antithrombotische Mittel (Blutverdünner) und Medikamente gegen Bluthochdruck (ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, Betablocker und Diuretika).
Bei der Entlassung hatten sich 13 Prozent der Personen noch nicht wieder erholt, bei 1 Prozent trat ein bleibender Schaden auf und 4 Prozent der aufgenommenen Patienten verstarben. Das Durchschnittsalter der Personen, die wegen Nebenwirkungen in die Notaufnahme mussten, betrug 74.5 Jahre.
Selbstmordgedanken durch Ritalin®?
Tödliche Nebenwirkungen durch Medikamente beschränken sich aber nicht nur auf ältere Generationen – auch wenn diese ein höheres Risiko haben, da sie oft mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen. Auch in jungen Jahren besteht die Gefahr, dass tödliche Nebenwirkungen auftreten:
So wurde Ritalin® (Wirkstoff Methylphenidat), der Topseller unter den verschreibungspflichtigen Medikamenten, den Kinder und Erwachsene gegen die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung ( ADHS ) einnehmen, mit dem Auftreten von Selbstmordgedanken, selbstmörderischem Verhalten, Psychosen, Reizbarkeit und Aggressionen in Verbindung gebracht (4).
Heute wird vermutet, dass das Risiko für Selbstmordversuche ohne Ritalin® höher ist als während der Einnahme (19) – jedoch ist der Zusammenhang auch mehr als 10 Jahre nach den ersten Vorwürfen noch nicht vollständig geklärt.
Tödliche Nebenwirkungen werden verschwiegen
Auch der Hersteller des Antidepressivums Prozac® (Wirkstoff Fluoxetin) hat offenbar jahrelang verschwiegen, dass Prozac® bei manchen Patienten zu Selbstmordabsichten führen kann – wo Antidepressiva die Stimmung doch eigentlich heben sollten.
Das wusste das Unternehmen seit den 1980er Jahren, als die entsprechenden Studien genau diesen Schluss nahelegten, sagten aber kein Wort darüber. Erst der Psychiater Martin Teicher ( Harvard University) übermittelte die entsprechenden Informationen der Presse. Medikamente mit dem Wirkstoff wurden bis heute millionenfach verschrieben (5).
Antidepressivum hemmt Wirkung von Brustkrebsmittel
In Kombination mit anderen Arzneimitteln kann Prozac® auch auf anderem Weg zum Tod führen. Wird Prozac® beispielsweise Brustkrebspatientinnen verordnet, die gleichzeitig das Brustkrebsmittel Tamoxifen erhalten, dann hemmt es die Wirkung von Tamoxifen und führt auf diese Weise zu einer höheren Sterblichkeit durch den Krebs (6).
Aus demselben Hause wie Prozac® stammt Strattera® (Wirkstoff Atomoxetin), ein Medikament, das im Jahr 2005 für die Anwendung bei ADHS bei Kindern und Jugendlichen zugelassen wurde. Chemisch ähnelt es stark Prozac® ( 7 ).
Und so verwundert es nicht, dass der Hersteller kurz nach der Zulassung eine Warnung herausgeben musste, in der darauf verwiesen wird, dass Strattera® nicht nur zu Aggressivität, sondern genau wie Prozac® auch zu Selbstmordgedanken und Selbstmordversuchen führen könne. (7) Eine Untersuchung hatte ergeben, dass das Risiko für suizidales Verhalten bei Kindern, die Strattera® einnehmen, doppelt so hoch ist, als bei Kindern, die ein Placebo bekommen. Sechs Jahre später folgte schliesslich noch ein Hinweis auf das Risiko eines Blutdruck- und Herzfrequenzanstiegs (9).
Selbstmord durch Psoriasis-Medikament
Auch das Psoriasis-Medikament Otezla® mit dem Wirkstoff Apremilast ist in klinischen Studien und nach der Markteinführung mit Suizidgedanken, suizidalem Verhalten und mit vollendeten Suiziden in Verbindung gebracht worden. Nach der Markteinführung (Februar 2015) seien bis zum März 2016 – also in etwas mehr als einem Jahr – 65 Fälle gemeldet worden (10):
- 5 vollendete Suizide
- 4 Suizidversuche
- 50 Fälle mit Suizidgedanken
- 5 Fälle von Suizidgedanken mit Depression
- 1 Fall von suizidalem Verhalten
Mit dem Wirkstoff behandelt wurden in diesem Zeitraum etwa 105.000 Personen.
In unserem Artikel Depressionen durch Medikamente, berichten wir ausserdem darüber, welche Medikamente – von Statinen, über Antibiotika bis hin zu Asthma-Mitteln – Depressionen als Nebenwirkung auslösen können.
Blutverdünner: Trotz tödlichen Nebenwirkungen überwiege der Nutzen
Als besonders riskant in Bezug auf tödliche Nebenwirkungen gelten jedoch die sogenannten Blutverdünner bzw. Blutgerinnungshemmer wie zum Beispiel Marcumar® (Wirkstoff Phenprocoumon). Besonders nach Operationen sollen sie das Risiko für Thrombosen und Embolien hemmen.
Viele Menschen nehmen diese Medikamente jedoch dauerhaft ein, um beispielsweise die Gefahr eines Schlaganfalls zu reduzieren. Allerdings kann es dabei zu lebensbedrohlichen inneren Blutungen kommen. Normalerweise überwiege der Nutzen eines Medikaments den Schaden – so heisst es immer wieder. Das bedeutet aber nicht, dass es keinen Schaden gibt, sondern nur, dass der Schaden eben kleiner ist als der Nutzen ( 11 ).
Der Schaden kann sich aber dennoch in einigen Hundert Todesfällen äussern – wie das zum Beispiel beim Blutverdünner Pradaxa® (Wirkstoff Dabigatranetexilat) der Fall war (260 Todesfälle in 3 Jahren). Die Europäische Zulassungsbehörde für Arzneimittel (EMA) liess der Ärzteschaft im Jahr 2011 daraufhin eine entsprechende Information zukommen, dass sich das Medikament nicht für Personen mit Nierenproblemen eigne.(12) Dieser Warnhinweis wurde auch in die Packungsbeilage aufgenommen..
Natürliche Blutverdünner ohne Nebenwirkungen stellen wir Ihnen unter vorigem Link vor.
Schäden durch rezeptfreie Schmerzmittel
Besonders häufig werden jedoch nach wie vor Schmerzmittel eingenommen. Die Wirkung rezeptfrei erhältlicher Medikamente sollte dabei nicht unterschätzt werden. Viele Menschen glauben, diese Arzneimittel könnten keinen Schaden anrichten, da sie nicht verschreibungspflichtig sind. Doch auch sie können tödliche Nebenwirkungen hervorrufen.
Nichtsteroidale Antirheumatika wie Ibuprofen, Diclofenac und Acetylsalicylsäure (ASS) können den Nieren schaden (13), da sie die Prostaglandine hemmen. Prostaglandine sind Hormone, die an der Regulation der Nierenfunktion beteiligt sind. Die Acetylsalicylsäure gilt zudem als jener Wirkstoff, der bei langfristiger Einnahme zu Magen-Darm-Blutungen führen kann (15).
Ein erhöhtes Risiko für Nierenschäden haben insbesondere Personen mit bereits eingeschränkter Nierenfunktion und ältere Menschen, da die Nierenfunktion mit zunehmendem Alter abnimmt. Jedoch zeigte eine Kohortenstudie von 2019, in der die Daten von rund 764.000 US-Soldaten untersucht wurden, dass das Risiko für Nierenschäden auch bei jungen Personen ansteigt, je öfter diese nichtsteroidale Antirheumatika einnehmen ( 14 ).
Tödliche Nebenwirkungen durch langfristige Einnahme
Bei einer regelmässigen Einnahme von Schmerzmitteln – wie das etwa bei rheumatischen Erkrankungen der Fall sein kann – ist das Risiko für tödliche Nebenwirkungen deshalb erst Recht erhöht. Denn viele Schmerzpatienten nehmen ihre Arzneimittel täglich.
1 bis 5 Prozent der Personen, die nichtsteroidale Antirheumatika einnehmen, sollen Nebenwirkungen entwickeln, die die Nieren betreffen (20). Das könnte zum Beispiel eine akute Nierenschwäche oder eine chronische Niereninsuffizienz sein. 1 bis 5 Prozent klingt erstmal wenig, doch wenn man bedenkt, wie viele Menschen bei Kopfschmerzen, Menstruationsschmerzen, Rücken- sowie Gelenkschmerzen diese Medikamente einnehmen, so erscheinen diese Zahlen in einem anderen Licht..
Das Risiko für eine akute Nierenschwäche soll durch die Einnahme zudem um das 1.5-Fache erhöht sein. Kommen weitere Risikofaktoren wie etwa das Alter oder eine bestehende Nierenschädigung hinzu, steigt das Risiko für eine akute Nierenschwäche um das 3- bis 4-Fache. Auch wenn eine akute Nierenschwäche schnell behandelt wird, soll sie bei jedem zweiten Betroffenen zum Tod führen. Eine chronische Niereninsuffizienz kann ebenfalls zum akuten Nierenversagen führen – zudem steigt das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Herzinfarkt oder Schlaganfall).
Risiko der Überdosierung von rezeptfreien Arzneimitteln
Glücklicherweise sind nicht alle Schmerzmittel in gleichem Masse nierengefährlich. Paracetamol soll deutlich nierenfreundlicher sein und wird deshalb Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion ans Herz gelegt.
Dafür ist die Einnahme von Paracetamol wiederum die häufigste Ursache für akutes Leberversagen (17), das tödlich enden kann. In den USA sind jährlich schätzungsweise 2000 Personen von akutem Leberversagen betroffen, wobei Paracetamol für 51 Prozent der Fälle verantwortlich gemacht wird. In Deutschland betrifft das akute Leberversagen (21) schätzungsweise 500 Personen jährlich.
Trotzdem nehmen manche Menschen Arzneimittel wie Paracetamol nach dem Motto „viel hilft viel“ ein. Ob und wann es dabei zu einer Überdosierung kommt, hängt neben der eingenommenen Dosis von individuellen Faktoren wie etwa Vorerkrankungen, Alter und Gewicht ab. Eine weitere Rolle spielen Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln, die eingenommen werden.
Da der Wirkstoff Paracetamol ausserdem nicht nur als reines Schmerzmittel erhältlich ist, sondern auch in Form von Kombinationsmitteln (z. B. als Erkältungsmittel), können versehentlich mehrere Paracetamol-haltige Arzneimittel eingenommen werden (16), ohne dass man bemerkt, dass diese alle auf demselben Wirkstoff basieren. So kann es leicht zu einer Überdosierung kommen.
Dasselbe gilt für andere Schmerzmittel: Viele antirheumatische Salben und Gels enthalten etwa den entzündungshemmenden und schmerzstillenden Wirkstoff Diclofenac, der aber auch als Schmerzmittel in Tablettenform erhältlich ist. Zwar kann der Wirkstoff über Salben und Gels zu einem wesentlich geringeren Teil ins Blut gelangen als durch Tabletten. Dennoch summiert sich auch hier die Dosis, was das Risiko für eine Überdosierung steigen lässt.
Nebenwirkungen fallen oft erst nach der Zulassung auf
Die Existenz einer Zulassung für ein Medikament ist also noch längst nicht die Garantie für dessen Unbedenklichkeit. Ganz im Gegenteil: Manche Nebenwirkungen fallen erst auf, nachdem ein Medikament seine Zulassung erhalten hat und eine Weile im Umlauf ist.
Amerikanische Forscher untersuchten in einer Studie von 2017 alle Arzneimittel, die von der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA)von 2001 bis 2010 zugelassen wurden – dies betraf 222 Medikamente. Bei 32 Prozent davon wurden nach der Zulassung neue Sicherheitsrisiken identifiziert (18).
Der Grund dafür ist, dass Frauen, Schwangere, Kinder und ältere Menschen in Zulassungsstudien häufig unterrepräsentiert sind. Zudem wiegen die Teilnehmer meist um die 70 kg, so dass leichtere und schwerere Menschen womöglich anders auf das Medikament reagieren. Auch sagt eine Studiendauer von ein paar Monaten nichts über die Langzeitfolgen aus.
Genauso wenig können in den Zulassungsstudien alle möglichen Wechselwirkungen überprüft werden. Viele Menschen nehmen aber zwei oder mehr Medikamente ein, wodurch das Risiko für tödliche Nebenwirkungen steigt.
Lebt man besser ohne Medikamente?
Natürlich ist die Einnahme von Medikamenten in vielen Fällen nötig und rettet Leben. Wer schon früh auf eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise achtet, Vitalstoffmängel ausgleicht und sich täglich bewegt, kann seine Fitness und Gesundheit jedoch deutlich erhöhen – und damit dem Risiko vorbeugen, jemals auf Medikamente angewiesen zu sein.
Ebenfalls lassen sich durch eine gesunde Lebensweise auch nachträglich noch viele Beschwerden verbessern bzw. häufig sogar heilen. Die meisten Nebenwirkungen könnten ausserdem vermieden werden, wenn bei der Einnahme von Medikamenten gewisse Regeln beachtet werden. Wo die häufigsten Fehlerquellen bei der Medikamenteneinnahme liegen, erfahren Sie in unserem Artikel Die fatalen Folgen von Medikationsfehlern.