Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom – oder Mastzellaktivierungssyndrom
Die Fibromyalgie ist eine schmerzvolle chronische Erkrankung, die mit sehr vielen unterschiedlichen Symptomen einhergehen kann. Die Erkrankung kann daher bei jedem Betroffenen auf eine etwas andere Art in Erscheinung treten.
Meist zeigen sich Muskel- und Bindegewebsschmerzen, die von einer Vielzahl weiterer – auch psychischer – Symptome begleitet werden können, z. B. von Depressionen, Angstzuständen, Gelenkschmerzen, Müdigkeit, Herzjagen, Atemnot, verstärktem Schwitzen und vielem mehr. Eine generelle Überempfindlichkeit, die gerne auch als Hochsensibilität bezeichnet wird, kann ebenfalls beobachtet werden.
Die Diagnose einer Fibromyalgie ist nicht einfach, da es noch keine eindeutige Diagnoseverfahren gibt. Genausowenig gibt es eine effektive Therapie. Ganz ähnlich sieht das Bild bei einem Reizdarm aus. Hier wird eher im Ausschlussverfahren diagnostiziert. Haben die üblichen Diagnoseverfahren für Magen-Darm-Beschwerden nichts ergeben, dann erhält man eine Reizdarm-Diagnose. Auch in diesem Fall gibt es keine hilfreiche Therapie seitens der Schulmedizin. Es wird lediglich symptomatisch behandelt.
Verschiedene Forschungsarbeiten lassen nun den Verdacht zu, dass manche Patienten gar keine Fibromyalgie haben und auch kein Reizdarmsyndrom. Sie leiden am MCAS, dem Mastzellaktivierungssyndrom, das sich beim einen mit Fibromyalgie-Symptomen zeigen kann, beim anderen mit Reizdarm-Symptomen und beim dritten wieder ganz anders.
Manchmal wird das Mastzellaktivierungssyndrom auch als Mastzellmediatorfreisetzungssyndrom bezeichnet, weil die Mastzellen dabei übermässig viele Botenstoffe (Mediatoren) freisetzen.
MCAS – Das Mastzellaktivierungssyndrom
Seit vielen Jahren forscht der Molekularpharmakologe Professor Dr. Gerhard J. Molderings vom Institut für Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsklinikum Bonn im Bereich des Mastzellaktivierungssyndroms, das mit MCAS abgekürzt wird und zu den Mastzellaktivierungserkrankungen gehört (MCAD für Mast Cell Activation Disease). Molderings vermutet, dass das MCAS hinter vielen Symptomatiken steckt, die bisher nicht richtig zugeordnet werden konnten.
Beim Mastzellaktivierungssyndrom kommt es zu einer krankhaften Anreicherung von daueraktiven Mastzellen in Organen und im Gewebe. Mastzellen gehören zu den Zellen des Immunsystems. Sie sind mit Botenstoffen gefüllt (z. B. Histamin, Heparin, Zytokine u. a.), die natürlicherweise im Verlauf von Immunreaktionen ausgeschüttet werden, um den Körper vor Bakterien, Parasiten und Giftstoffen zu schützen. Aber auch an der Wundheilung sind die Mastzellen bzw. ihre Botenstoffe beteiligt sowie u. a. am Schutz der Nerven.
Allergiker kennen die Mastzellen bzw. den Botenstoff Histamin sehr gut. Er ist es, der bei allergischen Reaktionen ausgeschüttet wird und zu den typischen Reaktionen wie Juckreiz, tränende Augen, Niesen, Fliesschnupfen etc. beiträgt.
Im Falle eines MCAS ist ein Teil der Mastzellen jedoch ausser Kontrolle geraten. Sie werden nicht mehr nur bei Immunreaktionen oder allergischen Reaktionen aktiviert, sondern sind daueraktiv. Offenbar ist ihnen überdies ihr Programm zur Apoptose (Zellauflösung im Falle einer Funktionsstörung oder Überalterung) abhanden gekommen oder aber sie vermehren sich über Gebühr, so dass die überaktiven Mastzellen immer zahlreicher und die Symptome immer schlimmer werden.
MCAS – Die Symptome
Je nachdem, wo sich diese hyperaktiven Mastzellen genau angereichert haben und welche ihrer Botenstoffe sie ausschütten, treten die entsprechenden Symptome auf. Haben sich die krankhaft veränderten Mastzellen beispielsweise im Verdauungssystem angesiedelt, kann es zur typischen Reizdarmsymptomatik mit Durchfall bzw. Verstopfung, Bauchkrämpfen, Gastritis, niedrigem Blutdruck etc. kommen.
Offenbar sollen bei 75 Prozent der Reizdarmpatienten die Zahl und Aktivität der Mastzellen im Verdauungssystem deutlich erhöht, von veränderter Form und diffus verteilt sein, was auf ein MCAS hinweist ( 1 ).
Sind die gestörten Mastzellen in der Muskulatur und rund um die Gelenke aktiv, dann könnte sich eine Fibromyalgiesymptomatik mit Gelenk- und Muskelschmerzen zeigen. Ein anderes Erscheinungsbild des MCAS zeigt sich in Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Herzrasen. Andere Betroffene leiden u. U. an Schwindel, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit, Panikattacken bis hin zu Depressionen und schwerer Erschöpfung, was dann gerne als Chronisches Erschöpfungssyndrom diagnostiziert wird.
Ferner können sich migräneähnliche Kopfschmerzen entwickeln, Hautveränderungen oder Symptome im Bereich der Atemwege auftreten (Asthma). Die beschriebenen Symptome liegen natürlich nicht ununterbrochen vor, sondern verstärken sich anfallsartig und schubweise.
Wer also an den beschriebenen Symptomen leidet und die bisher angewandten Massnahmen nicht besonders weiterhalfen, sollte seinen Arzt auf die Möglichkeit des MCAS ansprechen und ihn um die entsprechende Diagnostik bitten.
Mastzellleukämie, Mastozytose und MCAS
Nun kann es zunächst sein, dass Ihr Arzt beim Begriff des Mastzellaktivierungssyndroms insbesondere an die sehr seltene Mastzellleukämie (Blutkrebs mit bösartiger Veränderung der Mastzellen) denkt oder auch an die ebenfalls sehr seltene Mastozytose (die 1 von 364.000 Menschen betreffen soll). Bei letzterer steigt die Zahl der Mastzellen krankhaft an. Bei der MCAS sind die Mastzellen hingegen nicht unbedingt zahlenmässig hoch, sondern eher krankhaft überaktiv und schütten übermässig viele Botenstoffe aus. Die Symptomatik ist jedoch ähnlich, nur die Diagnostik ist anders.
Es geht hier also nicht um die Mastozytose, sondern um das Systemische Mastzellaktivierungssyndrom, das offenbar bereits – je nach Experte – bei zwischen 5 bis 10 Prozent aller Menschen vorliegen soll. Molderings spricht sogar von 17 Prozent. Denn auch bei Autoimmunerkrankungen, Autismus, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Asthma, Histaminintoleranz, Allergien und dem Chronischen Erschöpfungssyndrom könnte ein MCAS vorliegen.
MCAS: Die Diagnose
Die MCAS-Diagnose ist recht anspruchsvoll und besteht aus mehreren Teilen:
Andere Krankheiten ausschliessen
Zur Diagnose des MCAS müssen zunächst selbstverständlich andere in Frage kommende Erkrankungen, die einfacher diagnostiziert werden können, ausgeschlossen werden. Bei einer Darmsymptomatik werden z. B. chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) abgeklärt, bei Gelenkbeschwerden überprüft man, ob eine Arthritis vorliegt, Nahrungsmittelunverträglichkeiten/-allergien usw. usf.
Fragebogen zur Symptomatik auswerten
Zur konkreten Diagnose eines Mastzellaktivierungssyndroms wurde ein validierter strukturierter Fragebogen entwickelt. Anhand dieses Fragebogens kann abgelesen werden, ob die Konstellation der Beschwerden mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 95 Prozent einem MCAS zugeordnet werden kann.
Blut- und Urinuntersuchung
Beim Hausarzt können überdies bestimmte Blut- und Urinwerte überprüft werden (bzw. der Arzt kann die Proben nehmen und in ein passendes Labor senden, z. B. IMD Labor Berlin): z. B. im Blut der Tryptase-Wert. Normalwerte liegen bei bis zu 12 µg/l, erhöhte Werte könnten auf eine Mastzellaktivierung hinweisen ( 6 ). Normale Tryptase-Werte sind jedoch kein Grund dafür, dass ein MCAS ausgeschlossen werden kann. Im Gegenteil, viele MCAS-Patienten weisen normale Tryptase-Werte auf.
An mancher Stelle wird im Blut auch die Untersuchung von Heparin (erhöhte Werte können sich in Blutergüssen (Hämatomen) unter der Haut zeigen) und von Chromogranin A empfohlen oder im 24-h-Sammelurin das Überprüfen von Leukotrienen (Botenstoffe, die wie Histamin allergische Reaktionen auslösen können, insbesondere im Bereich der Atemwege) und von Histaminabbauprodukten (N-Methylhistamin), da Histamin selbst sehr instabil ist (siehe dazu auch oben verlinkten Fragebogen).
Biopsien
Zeigen die genannten Werte Auffälligkeiten und liegt ein entsprechend ausgewerteter Fragebogen vor, können nun weitere teilweise recht aufwändige Untersuchungen in die Wege geleitet werden ( 2 ). Mit einer Biopsie aus dem Knochenmark oder Organen (nicht aber in der Haut) sucht man beispielsweise nach Mastzellen und bestimmt die Dichte ihres Vorkommens sowie ihre Form. So sind kranke Mastzellen nicht rund, sondern oval oder spindelförmig. Im Blut und/oder Urin sucht man nach den Botenstoffen der Mastzellen. Teilweise kann man auch schon genetische Veränderungen in den Mastzellen nachweisen ( 4 ).
Erst wenn die Diagnose nach diesen Kriterien feststeht, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die erforderliche Therapie. Oft kann die Diagnose aber auch dann nicht zu hundert Prozent festgelegt werden, wenn alle diagnostischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Diagnostik noch gar nicht so weit ist, wie es notwendig wäre. So können beispielsweise bisher nur wenige Botenstoffe (unter 10) von über 200 im Blut und Urin bestimmt werden ( 3 ).
In manchen Fällen kann aber trotz ablehnender Haltung der Krankenkasse über einen speziellen Antrag die Kostenübernahme erreicht werden. Ihr Arzt wird Ihnen sicher bei den Formalitäten helfen.
MCAS – Die Therapie
Da es spezifische Trigger gibt, die dazu führen, dass die überaktiven Mastzellen ihre Botenstoffe verstärkt ausschütten, treten die Symptome in Schüben auf, die folglich immer dann in Erscheinung treten, wenn der jeweilige Mensch mit einem seiner Trigger in Berührung kam. Es gilt daher als erste Massnahme, diese Trigger zu finden (Selbstbeobachtung, Ernährungstagebuch u. a.) und sie – sobald man sie gefunden hat – möglichst zu vermeiden.
Ursachen und Trigger des MCAS finden
Hier ist wichtig zu wissen, dass die Botenstoffe unterschiedlich schnell ausgeschüttet werden. Histamin beispielsweise wird innerhalb von Sekunden nach Eintritt des Triggers aus der Mastzelle entlassen. Prostaglandine hingegen können auch erst Minuten bis sogar Stunden später ausgeschüttet werden. Und Zytokine können sogar erst nach einem halben Tag freigesetzt werden.
Es kann also sein, dass nach dem Trigger einige Zeit vergeht, bevor ein Schub einsetzt. Man überlegt daher nicht nur, was habe ich vor 5 Minuten gegessen oder getan, sondern auch, was habe ich gestern Abend oder heute Morgen gegessen und getan.
Nicht selten verschlechtert sich die Symptomatik von Schub zu Schub. Wenn beispielsweise zuvor nur ein Organ (z. B. der Darm) betroffen war, werden im Laufe der Jahre immer mehr Organe und Gewebebereiche in die Krankheit miteinbezogen, bis sie schliesslich systemisch ist, also den gesamten Körper betrifft.
Als Ursachen für das MCAS kommen die üblichen Verdächtigen in Frage, die bei jedweder Problematik angeführt werden:
- Ungünstige Ernährung
- Individuell unverträgliche Lebensmittel
- Umweltfaktoren
- Impfungen
- Medikamente
- Schadstoffe
- Drogenmissbrauch
- Erbanlagen/Mutationen*
- Darmfloraveränderungen bzw. das Leaky Gut Syndrom*, das natürlich auch wieder Ursachen hat, wie Sie hier lesen können: Leaky Gut Syndrom
Als Trigger sind alle diese Faktoren ebenfalls denkbar (ausser die mit * markierten), zusätzlich aber auch Faktoren wie z. B. Hitze oder Kälte, bestimmte Wetterlagen, hormonelle Veränderungen sowie körperlicher oder emotionaler Stress.
Was Ihr Arzt beim MCAS tun kann
Ihr Arzt kann ebenfalls etwas tun, um das MCAS zu lindern. Bei einem diagnostizierten MCAS wird er Ihnen eine Basistherapie vorschlagen sowie eine auf Ihre persönlichen Symptome abgestimmte Zusatztherapie.
Die Basistherapie besteht aus
- Vitamin C
- Antihistaminika
- sog. Mastzellenstabilisatoren (z. B. Cromoglicinsäure, Ketitofen u. a.), die verhindern, dass die überaktiven Mastzellen ihre Botenstoffe ausschütten und sind im Allgemeinen nebenwirkungsarm, also gut verträglich
Bei der symptomatischen Therapie muss jeder Betroffene abwägen, inwieweit er die Vorschläge des Arztes umsetzen möchte und wo er mit diesem lieber über naturheilkundliche Alternativen sprechen sollte. Denn möglicherweise wird der Arzt bei Magenproblemen PPI verschreiben, bei Durchfall die üblichen Durchfallmittel, bei Kopfschmerzen Schmerzmittel, bei Bauchweh krampflösende Mittel usw. usf.
Offenbar gilt jedoch, je länger die Beschwerden bestehen, umso weniger sicher ist eine vollständige Behebung derselben. Je schneller man das MCAS hingegen erkennt, umso höher sind die Chancen, dass es sich mit den genannten Massnahmen bessern lässt.
MCAS – Verwechslungsgefahr mit Fibromyalgie und Reizdarmsyndrom
Die Fibromyalgie oder auch das Reizdarmsyndrom und das MCAS können sich also symptomatisch so ähnlich sein, dass eine Verwechslungsgefahr besteht. Die Therapie der Fibromyalgie oder des Reizdarmsyndroms unterscheidet sich jedoch sehr stark von jener des MCAS.
Liegt also gar keine Fibromyalgie vor, sondern ein unerkanntes MCAS, wundert es nun auch nicht mehr, wenn die übliche Fibromyalgie-Therapie nicht anschlägt.
Leider ist es selten so, dass "nur" ein MCAS vorliegt, man es zu hundert Prozent sicher diagnostizieren kann, man die genannten Medikamente und Vitamine nimmt und wenige Wochen später alles wieder gut ist. Oft liegen kombinierte Störungen und Syndrome vor, so dass die MCAS-Therapie eine gewisse Besserung, aber noch keine endgültige Heilung bringt. Wir empfehlen daher, auch wenn der Verdacht auf ein MCAS besteht, in jedem Fall nicht ausschliesslich das MCAS zu behandeln, sondern immer auch ganzheitlich vorzugehen ( 5 ).
Denn die genannten Symptomenkomplexe erfordern in jedem Fall ein Umdenken des Betroffenen mit einer Umstellung der Ernährungs- und Lebensweise, um den Organismus möglichst triggerfrei zu halten und nicht noch zusätzlich mit ungesunder Kost zu belasten.