Psychische Erkrankung oder normaler Verhaltensunterschied?
Mit jeder Auflage des Handbuches der American Psychiatric Association (dt. Amerikanische Gesellschaft der Psychiater) namens Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (dt. Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen) werden gewissermassen neue mentale Störungen "geschaffen".
Vor allem in der aktuellen, der fünften Ausgabe dieses Handbuchs werden psychische Erkrankungen definiert, die eigentlich normale Varietäten des menschlichen Verhaltens darstellen.
In dieser Neuausgabe des Handbuchs werden beispielsweise die Trauer um ein verstorbenes Familienmitglied oder das "zu lange" Surfen im Internet als geistige Störungen klassifiziert.
Medikamente gegen normales Verhalten?
Aber welche Folgen haben solche international gültigen Richtlinien für Patienten? Peter Kinderman, der Direktor des psychologischen Instituts der University of Liverpool, erklärte diesbezüglich in einem Interview:
Viele Menschen, die schüchtern, trauernd oder exzentrisch sind, oder aber ein etwas unkonventionelles Liebesleben führen, werden von heute auf morgen als geistig erkrankt eingestuft. Das ist nicht menschlich, und es ist zutiefst unwissenschaftlich. Und es wird uns nicht dabei helfen, die richtigen Entscheidungen für die jeweiligen Patienten zu treffen.
Psychiater erhalten durch dieses international anerkannte Handbuch die Möglichkeit, Medikamente gegen Krankheiten zu verschreiben, die es gar nicht gibt. Diese Tatsache löste auch bei Medizinern grosse Diskussionen aus.
Scharfe Kritik am Handbuch für psychische Erkrankungen
Die fünfte Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (kurz DSM-5) erschien im Mai 2013.
Laut David Pilgrim von der University of Central Lancashire im Vereinigten Königreich sei es offensichtlich, dass das DSM-5 vor allem "den Interessen der Pharmakonzerne" diene, indem es deren Absatzmärkte durch die Erfindung neuer Krankheiten vergrössere.
Er erzählte der Nachrichtenagentur Reuters Health in einem Interview, dass die neuen Richtlinien die Gefahr bergen würden, dass "die Erfahrungen und das Benehmen vieler Menschen wie botanische Spezies behandelt werden, die kategorisiert und in Schubladen gesteckt gehören."
Wie es zur wundersamen Vermehrung psychischer Krankheiten kam
Betrachtet man die Entwicklung der Klassifizierung psychischer Erkrankungen, kann man vor allem in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg sehen.
Professor Simon Wessely vom Institute of Psychiatry des King`s College London erklärte, dass im Jahre 1840 gerade mal eine einzige geistige Erkrankung existierte: Man nannte sie "Schwachsinn".
In den folgenden hundert Jahren stieg die Anzahl der definierten mentalen Störungen auf über 100 an. Es kam also jedes Jahr etwa eine neue psychische Erkrankung hinzu.
Von 1959 bis 1980 stieg die Zahl dann von 128 auf 227 erfasste psychische Erkrankungen und heutzutage listet die American Psychiatric Association (APA) im aktuellen DSM-5 Handbuch mehr als 300 Verhaltens- und Geistesstörungen auf.
Was könnten daraus die Folgen für uns Menschen sein?
Beispiel ADHS als psychische Erkrankung
Nimmt man eines der wohl bekanntesten Beispiele "neuerer psychischer Erkrankungen" – ADHS – und betrachtet dessen Entwicklung, kann man recht gut erkennen, welche Folgen solche festgelegte Definitionen haben können. Die ADHS-Diagnosen sind in den letzten Jahren stetig angestiegen.
Das liegt mit Sicherheit auch daran, dass die psychiatrische Gemeinschaft die Symptomatik zur ADHS-Diagnose immer mehr ausgeweitet hat. Leiden wirklich all diese Menschen an einer psychischen Erkrankung, die mit Medikamenten behandelt werden muss?
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass bei mehr als 20 % der angeblich an ADHS leidenden Kinder eine Fehl-Diagnose vorliegt.
Diese Kinder bekommen oft voreilig Psychopharmaka verschrieben, die bedenkliche Nebenwirkungen aufweisen können. Andere Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Anzeichen von ADHS auch auf natürliche Weise behandelt werden können. (Mehr dazu hier: ADHS natürlich behandeln)
Beispiel Depressionen
Nick Craddock vom Department für psychologische Medizin und Neurologie der Cardiff University nannte Depressionen als ein Musterbeispiel, bei welchem das DSM-5 zu Fehlentscheidungen führen wird. Die Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen ist eine normale menschliche Reaktion, doch würde sie nach der neuen Ausgabe des DSM als Depression behandelt werden.
Der Tod als einschneidendes Ereignis würde völlig ausser Acht gelassen, während nur die Symptome betrachtet würden. Somit würde man eine trauernde Person als psychisch krank einstufen und ihr Antidepressiva verordnen ( 1 ).
Brauchen wir solche Regelungen und Handbücher wirklich? Erschreckenderweise gilt das DSM als eine Art internationaler Standard, nach welchem sich viele Psychologen und Mediziner weltweit richten.